Verlust der Aura, oder: Film ist Fortschritt

Eine Studienausgabe von Walter Benjamins "Kunstwerk"-Aufsatz von 1939

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamin schrieb Ende 1935 den langen Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", der in französischer Übersetzung im folgenden Jahr erstmals erschien. 1939 überarbeitete er den deutschen Text noch einmal, erlebte dessen Erstdruck im Jahr 1955 aber nicht mehr. Seit den 1960er-Jahren avancierte der Aufsatz zu einem Grundlagentext der Medienwissenschaft und erfreut sich seitdem einer "penetranten Beliebtheit" (wie Theodor W. Adorno es einmal, nicht ohne Neid, ausdrückte).

Benjamin versuchte mit dem Aufsatz eine historische Bestandsaufnahme der Kunst in der Moderne zu leisten. Fotografie und Film hätten die Kunst und ihre Rezeptionsweise nachhaltig verändert: An die Stelle eines geschlossenen Werks sei das montierte und fragmentierte Werk, an die Stelle der kontemplativen Wahrnehmung eines einmaligen Originals die zerstreute Wahrnehmung der massenhaft verbreiteten Kopien von Kunstwerken getreten.

Neben dem Titel, der zum geflügelten und vielfach abgewandelten Wort geworden ist, wurde besonders das Schlagwort vom Verfall der Aura des Kunstwerks in der Moderne bekannt. "Echtheit" spiele als Kriterium für Kunst kaum eine Rolle mehr, vielmehr werde diese in ihrer reproduzierten Form erst für die Massen verfügbar: "Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um im Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in einem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, lässt sich in einem Zimmer vernehmen." In gewisser Weise sammelten sich aber Reste des Auratischen im modernen Starkult.

Noch stärker als Fotografie und Schallplatte habe aber der Film die künstlerische Produktion und Rezeption verändert. "Bei den Filmwerken ist die technische Reproduzierbarkeit des Produkts nicht wie zum Beispiel bei den Werken der Literatur oder der Malerei eine von außen her sich einfindende Bedingung ihrer massenhaften Verbreitung. Die technische Reproduzierbarkeit der Filmwerke ist unmittelbar in der Technik ihrer Produktion begründet."

Medienhistorisch werde das die Kunst gründlich verändern: "Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks." Da beim Film die Apparatur zwischen Schauspieler und Zuschauer trete, sei dessen Wahrnehmung auch eine andere, nämlich nicht mehr eine einfühlende, sondern eine "testende", die in etwa der "begutachtenden Haltung" in Brechts epischem Theater entspreche. "Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen."

Zugleich aber werde der Zuschauer durch die transitorische Betrachtung des vielfach zerstückelten Filmbilds auch mit dem Optisch-Unbewussten konfrontiert, also mit Dingen, die beim Produktionsprozess gar nicht bemerkt worden seien, nun aber eine unbeabsichtigte Wirkung entfalten können. Die filmische Rezeption habe "Dinge isoliert und zugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im Strom des Wahrgenommenen" untergegangen seien. Zugleich sei die Wahrnehmung des Films aber durch "Chockwirkung" charakterisiert, die "durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will". Das heißt, die beweglichen Bilder usurpieren die Gedanken, die nicht mehr fixiert werden können. Zerstreute Wahrnehmung aber erlaube die Mobilisierung der Massen als Masse (was einem auratischen Kunstwerk niemals gelingen könne). Dies aber sei das Gebot der Stunde: Der "Ästhetisierung der Politik" durch die Faschisten die "Politisierung der Kunst" durch die Kommunisten entgegen zu setzen.

Während die ideologische Funktion von Massenmedien heute kaum mehr diskutiert wird, spielen andere Themen des Aufsatzes - etwa die Rolle des Taktilen, des Raumverständnisses, der Geschwindigkeit, des Auratischen und des Optisch-Unbewussten oder die kulturelle Funktion von Figuren wie Mickey Mouse, Charlie Chaplin oder der "Stars" - in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskussionen noch eine große Rolle. Insbesondere die Frage nach der Zurichtung der menschlichen Wahrnehmung durch den Entwicklungsstand der Reproduktionstechniken hat durch die digitale Generierbarkeit von Hyperrealitäten noch an Brisanz zugenommen. Trotz der historischen Gebundenheit von Benjamins Überlegungen ist das Anregungspotenzial des "Kunstwerk"-Aufsatzes wohl noch nicht ausgeschöpft.

Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass für den akademischen Unterricht nunmehr eine ausführlich kommentierte Fassung des "Kunstwerk"-Aufsatzes durch den Dresdner Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker im Suhrkamp Verlag herausgebracht wurde. Schöttker ergänzte den Aufsatz durch 17 Dokumente zur Entstehung und Frührezeption (Briefe von und an Benjamin aus den Jahren 1936 bis 1939). Sowohl der "Kunstwerk"-Aufsatz als auch die Dokumente sind durch einen detaillierten 34-seitigen Stellen-Kommentar erschlossen, der alle Namen, Sachbegriffe und Anspielungen erläutert, die den heutigen Lesern vielleicht nicht mehr auf Anhieb verständlich sind.

Ein Glossar, eine Zeittafel, eine ausführliche Bibliografie und ein Namenregister ergänzen den Nachschlageteil des Bandes. Außerdem enthält der Kommentar eine diskursive Darstellung, die für das Verständnis des Textes hilfreich ist, auch wenn hier manches redundant erscheint. Hervorzuheben ist aber, dass Schöttker sich mit interpretierenden Äußerungen zurückhält und sich auf ein an Fakten orientiertes Referat beschränkt. Nach einer Einleitung stellt der Autor die historische Situation der Medienentwicklung und die Entstehungsgeschichte des Werks dar, gibt anschließend eine "Präsentation des Textes" (Zusammenfassung, Skizze des Aufbaus, Darstellung des Argumentationsgangs), schildert dann die Rezeption des Essays innerhalb der Frankfurter Schule und in der Medientheorie der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit der 1960er- bis 90er-Jahre, bevor er abschließend äußerst knapp die "Positionen der Forschung" resümiert.

Der Band problematisiert nicht die Hoffnungen, die Benjamin mit der technischen Medienrevolution verband, nämlich die Demokratisierung der Kunst, die den Verfall der Aura wettmache. "Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden", meinte Benjamin (noch nicht ahnend, dass sich dieser Anspruch erst im Zeitalter der Webcam und des Fotohandys wirklich massenhaft einlösen lassen würde). "Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren." Ob das wirklich so ist, scheint fraglich. Es könnte Gegenstand eines Seminar-Gesprächs sein, für das Schöttke mit seiner kommentierten Edition des "Kunstwerk"-Aufsatzes eine exzellente Grundlage geliefert hat.


Titelbild

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp Studienbibliothek Band 1.
Kommentar von Detlev Schöttker.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
254 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783518270011

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch