Anarchie als praktische Herausforderung

Horst Stowassers Lesebuch "Anarchie!" informiert über Idee, Geschichte und Perspektive der Idee des Anarchismus

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weitgehend abseits der großen ideologischen Grundsatzauseinandersetzungen zwischen Rechts und Links, unter der das vergangene Jahrhundert zuweilen schmerzhaft zu leiden hatte, führte die politische Theorie vom Anarchismus ein Außenseiterdasein. Gemeinhin gilt bis heute diese als eine Sonderform linker politischer Gesellschaftstheorien als Inbegriff von Terror und Chaos. Grund für dieses ebenso eindeutige wie falsche Vorurteil sind zum einen die besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftretenden ,anarchistischen Attentäter', deren Praxis einer gewaltsam revolutionären Umwandlung der Gesellschaft zwischen ,Schuldigen' und ,Unschuldigen' nicht mehr unterschied. "Es gibt keine Unschuldigen!" rechtfertigte beispielsweise der französische Anarchist Émile Henry 1894 vor Gericht sein Bombenattentat auf ein vollbesetztes Café.

Prägte der Schrecken der realen anarchistischen Gewalt ein bedrohliches Terrorverständnis vom Anarchismus, so gründete die Vorstellung vom Chaos als anarchistischer Realität zum anderen auch in der außenseiterischen Lebensexistenz vieler Anarchisten, die ein verschrecktes Bürgertum als Angriff auf ihre bewährte Lebensweisen ansahen. Anarchistische Bohèmiens ließen sich wahlweise als ,verrückte Chaoten' diffamieren oder wurden, wenn sie, wie der 1934 von den Nazis ermordete Erich Mühsam ihren Lebensentwurf bewusst politisch verstanden, als verhasste Außenseiter attackiert und verfolgt.

Das emanzipatorische und idealistische Potential anarchistischer Ideen blieb so weitgehend außen vor und wurde tragischerweise auch gerade von denjenigen politischen Kräften abgelehnt, die eigentlich Verbündete hätten sein können. "Das Reich der Freiheit" jedenfalls lag einstmals auch in der Zielvorstellung des Marxismus. Doch ersetzte die auf dem Marxismus gründende politische Bewegung die Aufhebung ungerechter Herrschaft von Menschen über Menschen schon bald mit einer neuen Form der Herrschaft, der "Diktatur des Proletariats", als dessen alleiniger Vertreter sich eine allwissende Partei ausgab. Im Streben nach einer gerechteren Welt wurden ausgerechnet die dem Marxismus verpflichteten politischen Kräfte zu Todfeinden des Anarchismus und versuchten ihn dort, wo er sich, wie während des "kurzen Sommers der Anarchie" im Spanien der 1930er-Jahre, in der Praxis hätte bewähren können, mit allen Mitteln zu verhindern.

Davon berichtet unter anderem das vorliegende Buch von Horst Stowasser. Stowasser versteht Anarchie "als den höchsten Ausdruck der Ordnung". Das, so erläuterte er einmal in einem Interview, "klingt paradox, aber nicht, wenn man es philosophisch betrachtet, weil Anarchie eine Ordnung ist, die auf Freiwilligkeit beruht, statt auf Zwang." Weil Stowasser seine theoretischen Überlegungen zur Idee des Anarchismus seit den 1970er-Jahren immer wieder mit praktischen Projekten, etwa aus der alternativen Graswurzelbewegung ("Projektanarchismus"), zu verbinden suchte, hat er sich in der Szene ein gewisses Renommée erworben. Er gilt als eine Art Chefdenker der anarchistischen Bewegung in Deutschland. 1971 gründete er das Dokumentationszentrum "Das AnArchiv", 1973 veröffentlichte er die Broschüre "Was ist eigentlich Anarchismus?", die in der Szene weite Verbreitung fand. Sie war auch Grundlage des 1995 erschienenen Buchs "Freiheit pur". Nachdem dieses Werk bald schon vergriffen war, führte es, wie der Autor in einer "Editorischen Notiz" augenzwinkernd bemerkt, "als Raubdruck und im Web ein munteres Eigenleben." Dergleichen ließ sich als lebendige Nachfrage interpretieren und so entstand das vorliegende Buch als Neubearbeitung, ergänzt um ein Register sowie einem Bildteil.

Das Buch ist kein klassisches wissenschaftliches Werk. Es versteht sich eher als ein Lesebuch. In drei Teilen konzentriert es sich auf Informationen über die Idee, die Vergangenheit und die Zukunft des Anarchismus. Die 43 jeweils mit Literaturhinweisen versehenen Kapitel sind weitgehend geschlossen konzipiert und können auswahlweise gelesen werden. Da Stowasser souverän über sein angesammeltes Wissen verfügt und er zudem komplexe Zusammenhänge zügig darzustellen weiß, lassen sich die Kapitel gut lesen.

Stowasser ist ein überzeugender Anwalt der Idee des Anarchismus'. Er verschweigt die Irrwege anarchistischer Praxis, wie etwa die der oben genannten Terroristen nicht, legt aber auch bei ihrer Darstellung Wert auf Differenzierungen, etwa wenn er in einem Exkurs zu "Anarchismus und Gewalt" ausführt, dass "ein lupenrein zu Ende gedachter Anarchismus unbedingt gewaltfrei sein (muss), denn Gewalt ist schließlich nichts anderes als ein Ausdruck von Herrschaft." Mit dem "Dilemma" aber, dass manche nicht daran glauben, "dass sich Gewalt immer vermeiden ließe", müssen "sich alle Menschen auseinandersetzen, die diese Welt verändern wollen - seien es nun Naturschützer, religiös Erleuchtete, Globalisierungsgegner, Befreiungskämpfer, Entwicklungshelfer oder Anarchisten."

Derartige Aussagen belegen einen sympathisch anmutenden Realismus, der frei ist von Überzeugungseifer. Zu überzeugen vernögen die vielen Beispiele anarchistischer Praxis aus der Geschichte, von denen Stowasser erzählt. Sie belegen freilich auch eine gewisse tragische Tradition: bevor diese gesellschaftspolitisch innovativen Experimente sich endgültig bewähren konnten, waren sie bereits wieder beendet. Und dafür sorgten zumeist die etablierten politischen Kräfte, für die die Auseinandersetzung mit der ,anarchistischen Konkurrenz' die Machtfrage bedeutete. Wenn man so will: Der Anarchismus steht immer noch am Anfang seiner Entwicklung.


Titelbild

Horst Stowasser (Hg.): Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven.
Edition Nautilus, Hamburg 2007.
510 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015374

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