Weimar als Ereignis

Ein neues Jahrbuch zum großen Jubiläum von Anna Amalia und Carl August

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen dem vergangenen Schillerjahr 2005 und dem bevorstehenden Goethe- und Schillerjahr 2009 hatte Weimar ein weiteres wichtiges Jubiläumsjahr zu feiern: das Anna-Amalia- und Carl-August-Jahr 2007. Während am 10. April des 200. Todestages der einstigen Weimarer Herzogin (1739-1807) gedacht wurde, erinnerte man am 3. September an den 250. Geburtstag ihres Sohnes, des ehemaligen Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757-1828).

Dieses Doppelereignis hat sich die Klassik Stiftung Weimar zweifach zunutze gemacht. In Kooperation mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena wurde nicht nur die opulente Ausstellung 'Ereignis Weimar' eröffnet, die die künstlerische Blüte der Residenzstadt um 1800 facettenreich dokumentiert. Auch brachte die Stiftung den ersten Band ihres neuen Jahrbuchs heraus, das sich dezidiert dem 'Ereignis Weimar' widmet. Optisch wird dieser Zusammenhang bereits dadurch hervorgehoben, dass Johann Heinrich Meyers Entwurfszeichnung 'Der Genius des Ruhms' sowohl den Ausstellungskatalog als auch das Jahrbuch ziert, obwohl letzteres die Provenienz der Titelabbildung bedenkenlos verschweigt.

Zugleich ist mit dem Schlagwort 'Ereignis Weimar' der Jenaer Sonderforschungsbereich 'Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800' aufgerufen, dessen Mitarbeiter an Ausstellung und Jahrbuch mitgewirkt haben. Thematisiert ist damit ein Forschungskonzept, das entgegen bestehender Etikettierungen - wie etwa der Rede von der 'Weimarer Klassik' - die kulturelle Hochphase um 1800 mit heuristischem Zugriff möglichst wertneutral zu erschließen versucht (so im Jahrbuch-Beitrag von Temilo van Zantwijk). Wenn sich nun die Klassik Stiftung Weimar dieser Denkrichtung affirmativ anschließt, dann kann darin auch eine Distanzierung von ihrem früheren wissenschaftlichen Selbstverständnis erkannt werden. Denn immerhin trug sie noch bis 2006 das Etikett 'Weimarer Klassik' in ihrem früheren Titel 'Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen'.

Das Jahrbuch wird von einem kundigen Beitrag Joachim Bergers zu Anna Amalia eingeleitet, der unter Rekurs auf seine materialreiche Dissertation "Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach" (2003) die tatsächlichen Denk- und Handlungsräume der Weimarer Fürstin skizziert. Indem er resümiert, dass die Regentin "weniger und mehr zugleich" gewesen sei als nur "Markenzeichen oder Identifikationsfigur", wird der Mythos von Anna Amalia als 'Wegbereiterin der Weimarer Klassik' endgültig für obsolet erklärt. Obwohl Berger damit noch neueste (Forschungs-)Literatur angreift, scheut er sich jedoch vor einer Auseinandersetzung mit Ettore Ghibellinos provokanter These, dass zwischen Goethe und Anna Amalia ein heimliches Liebesverhältnis bestanden habe ("J.W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe", 2003).

Die Besonderheit der Landesmutter kommt vor allem in den Beiträgen von Hildegard Wiegel und Jochen Klauss zum Ausdruck, in denen einerseits die Vasensammlung Anna Amalias und andererseits ihre Porträts auf Münzen und Medaillen behandelt werden. Wiegel erschließt die wissenschaftlich bislang nur ansatzweise berücksichtigten "Prachtgefäße" der Herzogin, deren ältestes Stück, ein attisch-schwarzfiguriges Salbgefäß, sogar auf um 475-450 vor unserer Zeitrechnung zu datieren ist. Indem Wiegel den Erwerb der Vasen während Anna Amalias Italienreise schildert, verweist sie implizit auf den Beitrag von Siegfried Seifert, der den Bedeutungshorizont eines Briefes der Regentin an ihren Bibliothekar Christian Joseph Jagemann rekonstruiert, den sie auf ihrer Italienreise geschrieben hatte. Die Erstveröffentlichung des in italienischer Sprache verfassten Briefes zeigt nicht nur, dass sich Anna Amalia während der ersten Etappe ihres Italienaufenthalts offenbar sehr wohl gefühlt hat. Auch bezeugt er, dass sie selbst aus der Ferne noch an die Ereignisse in ihrer Heimat denkt - beispielsweise an die zweite Heirat Jagemanns.

Im Gegensatz zur Weimarer Herzogin gibt es kaum einen Beitrag, der sich dezidiert Carl August widmen würde. Zwar berücksichtigt Klauss auch die Münz- und Medaillen-Abbildungen des Regenten und geht Hermann Mildenberger auf Carl Augusts Förderung des Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein ein. Gleichwohl ist es nur Gerhard Müller, der den Herzog näher in den Blick nimmt, indem er sich der politischen Freundschaft zwischen Carl August und Goethe widmet und diese als eine nahezu symbiotische Beziehung beschreibt: "Beide schätzten und bedurften einander: Goethe des Herzogs als Förderer seiner ehrgeizigen politischen und literarischen Zukunftsvisionen, Carl August des reichsjuristisch gebildeten Dichters als eines politischen Vertrauten, mit dessen Berufung er nach außen wie nach innen ein Zeichen setzen konnte." Dabei macht Müller nicht nur sichtbar, wie sehr sich Goethe in administrativen Tätigkeiten engagierte, sondern lässt ebenso anklingen, welchen Kraftaufwand die Bewältigung dieser Aufgaben kostete. Denn Müller weiß zu berichten, dass "die beiden Freunde" Carl August und Goethe nach ihren langdauernden Diskussion oft "aneinander gelehnt" einschliefen.

Den dritten und zugleich umfangreichsten Schwerpunkt des Jahrbuchs bilden jene Beiträge, die auf das 'Ereignis Weimar' aus unterschiedlichen Perspektiven eingehen. Zunächst skizziert Justus H. Ulbricht in seinem rezeptionsgeschichtlichen Aufriss, wie das Schlagwort vom 'Weimarer Musenhof' aus einem Fürstenideal erwachsen und zur Finalchiffre für die kulturelle Blüte Weimars um 1800 erstarrt ist. Dabei greift Ulbricht auch auf das unveröffentliche 'Grundsatzpapier' zur parallel konzipierten Ausstellung zurück, in dem abermals betont wird, dass jenes 'Ereignis' aus heutiger Sicht nicht allein auf das Zusammenwirken der 'Großen Vier' - Goethe, Schiller, Wieland und Herder - reduziert werden dürfe.

Diese geforderte Blickerweiterung wird exemplarisch veranschaulicht, indem ausgewählte Weimarer Memorialräume, die Musikkultur am Weimarer Hof, die Weimarer Bildhauerkunst mit besonderer Akzentuierung der Werke Martin Gottlieb Klauers und die Gestaltung des Tiefurter Schlossparks näher behandelt werden. Hervorzuheben ist hier der Beitrag von Cornelia Brockmann, die dank umfangreicher archivalischer Recherchen aufzeigen kann, welche Programme höfischer Konzerte sich für die Zeit von 1773 bis 1805 noch nachweisen lassen. In ihrer Auswertung des Quellenmaterials kommt sie zu dem Ergebnis, dass "das rekonstruierbare Repertoire nicht nur quantitativ auf den hohen Stellenwert der Instrumentalmusik verweist, sondern auch qualitativ einen hohen Anspruch geltend macht." Dass von einem ähnlich "hohen Anspruch" auch auf dem Gebiet der Bildhauerkunst auszugehen ist, zeigen die Beiträge von Gabriele Oswald und Katharina Lippold, in denen die Büsten und Terrakotten des Hofbildhauers Martin Gottlieb Klauer im Vordergrund stehen.

Eher randständig ist dagegen der Beitrag von Ronny Tadday und Jan Frercks, die die außeruniversitäre Existenz des Chemikers Alexander Nicolaus Scherer am Weimarer Hof untersuchen. Dieser war zwar mit einer vergleichsweise hohen Summe ausgestattet worden, um eine Studienreise nach England zu unternehmen, doch entpuppte er sich für Weimar nicht als Gewinn. Sein Zeitgenosse Joseph Rückert schildert sogar, dass "Scherer beim Experimentieren ungeschickt war und sich und einige Zuschauer verbrannte".

Dass die prinzipielle Offenheit des 'Ereignis'-Begriffs schließlich auch die Gefahr birgt, in eine thematische Beliebigkeit abzugleiten, veranschaulicht der Beitrag von Olaf Breidbach. Denn was die von ihm untersuchte Naturlehre Schellings mit dem 'Ereignis Weimar' zu tun haben soll, bleibt das Geheimnis des Autors. Vielmehr erfährt der Leser, dass sich Schellings theoretische Position etwa von den Entwürfen der nur beim Nachnamen genannten Naturphilosophen Johann Baptist Schad und Karl Christian Friedrich Krause unterscheide - wodurch diese Positionen aber charakterisiert sind, erfährt man nicht.

Das Jahrbuch schließt mit einem Jahresbericht, der auch knapp die Arbeiten resümiert, die unternommen wurden, um die Herzogin Anna Amalia Bibliothek wieder instand zu setzen. Obwohl die Wiedereröffnung am 24. Oktober 2007 selbst im Beisein des Bundespräsidenten gefeiert wurde, lässt sich die traurige Bilanz der Brandnacht nicht beschönigen: "50.000 Bände bleiben verloren; über die Hälfte der am schwersten vom Brand betroffenen Bände werden nicht restaurierbar sein und diese Verlustzahl noch erhöhen." Zu hoffen ist daher, dass sich vor allem ein Ziel der Klassik Stiftung Weimar erfüllen wird, das sie sich selbst gestellt hat: "die Bekämpfung der strukturellen Unterfinanzierung der Stiftung". Denn damit sollte zumindest künftigen unglücklichen Ereignissen präventiv entgegengewirkt werden können.


Titelbild

Hellmuth Th. Seemann (Hg.): Anna Amalia, Carl August und das Ereignis Weimar.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
388 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301481

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