Porträts der Künstler als Geschwister

Linde Salber über die Geschwisterbeziehungen von Elisabeth und Friedrich Nietzsche, Gertrude und Leo Stein, Ana María und Salvador Dalí, Erika und Klaus Mann

Von Tobias KurwinkelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Kurwinkel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Geniale Geschwister" handelt von einem "Thema in vier Variationen", von vier legendären Geschwisterpaaren "im dramatischen Wechsel der Welten" der letzten zweihundert Jahre. Bei aller Verschiedenheit der Geschwisterschicksale, die Linde Salber aufgrund der "Intensität ihrer Beziehungen" ausgewählt hat, geht es immer um "eine Schwester, einen Bruder und die Kunst", genauer um die Frage: "Wie geht eine Schwester mit einem Bruder um, der die bürgerlich eingefahrenen Bahnen verläßt, um sich als Künstler zu realisieren? Wenn aus einem Bruder nicht ein Angestellter, ein Bäcker oder Lehrer wird, sondern ein Künstler, also ein Mensch, der nicht auf einem im gesellschaftlichen Gefüge klar bestimmten Platz landet, dann nimmt das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester eine besondere Gestalt an."

Die Autorin, promovierte Psychologin und praktizierende Psychotherapeutin, interessiert sich für die psychologischen Prozesse, die diesen Beziehungen zugrunde liegen, sie strukturieren, sie definieren. Dass hierbei nicht auch und im Besonderen über die Stellung der Frau, der Schwester im soziohistorischen Zeitgefüge neben dem Mann und dem Bruder nachgedacht werden muss, umgeht sie relativierend: Dieser Aspekt "soll hier nicht erneut ausgeleuchtet werden", denn inzwischen "haben wir wohl begriffen, daß Schwester und Bruder, Frau und Mann [...] Vergleichbares zustande bringen können." Diese etwas zu naive Einschätzung verkennt die offensichtliche Beeinflussung der Geschwisterschicksale von Faktoren, die außerhalb der eigentlichen Beziehungsgefüge liegen, die in den Zeitumständen selbst zu suchen sind.

Linde Salber lässt ihr Buch mit Elisabeth und Friedrich Nietzsche beginnen. Sie skizziert das Heranwachsen der Geschwister im "geschlossenen System", in der "zu Ende gedachten Welt" des Pastorenhaushalts in Röcken, einem Dorf im preußischen Sachsen. Stationen der Biografie Friedrich Nietzsches, von denen perspektivisch das Leben Elisabeths gezeichnet wird, folgen. So erzählt die Autorin von der Schulzeit Nietzsches in Naumburg und im angesehenen Internat in Pforta, vom Studium in Bonn und Leipzig, von der frühen Professur in Basel, den Jahren als reisender Philosoph, dem Zusammenbruch in Turin und von der Zeit bis zu seinem Tod als bloßes "Ausstellungsstück" in der Villa Silberblick. Auf das gemeinsame Leben der Geschwister in Röcken und Naumburg, in Basel, wo das "Lama" - so nannte der jüngere Bruder die Ältere - den Professorenhaushalt führt, sowie die Weimarer Jahre, geht Salber besonders ein. Die Ehe mit Bernhart Förster, das Leben in Paraguay und die Distanzierung des nunmehr freien Philosophen von den antisemitischen Ideen seines Schwagers und dessen Siedlungsprojekt Nueva Germania in Südamerika, finden gleichfalls Raum.

Auch das Leben Gertrude und Leo Steins wird über Stationen, die in Kapitel untergliedert sind, geschildert: Ausgangspunkt der biografischen Erzählung ist wiederum die Kindheit, das gemeinsame Aufwachsen in Kalifornien, das die Autorin in idyllisch bunten Farben malt: "Pfeffersträuche, Pfirsichbäume, Gummibäume und große melancholische Eukalyptusbäume umgaben das Haus" - ein "Paradies für Kinder", wie sie befindet. Das "halbe Leben", das die Geschwister an Orten wie Cambridge und Paris miteinander teilen, umreißt Salber maßgeblich aus der Perspektive Gertrude Steins, deren Weg sie nach der Trennung von ihrem Bruder im "vierten Lebensjahrzehnt" bis zu ihrem Tod weiter verfolgt; die Lebensgeschichte Leo Steins wird für die Biografin hingegen nach dessen Aus- und Zurückzug "mit Möbeln, Büchern und Bildern seiner Wahl" ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Marginalie.

Die Geschichte von Ana María und Salvador Dalí erzählt Linde Salber anders. Nicht allein der Wechsel der Erzählperspektive ist dafür verantwortlich, sondern auch der Erzählton, in dem persönliche Anteilnahme mitklingt. Strukturell verändert sich die Darstellung ebenfalls: Den Lebensabschnitten Salvador Dalís wie Kindheit, Studium, die Reisen mit Ehefrau Gala und die letzten Jahre in Figueres, werden Reiseberichte der mittlerweile sehr subjektiven Biografin vorangestellt, die Schilderungen der Spurensuche in Katalonien beinhalten.

Abgesehen davon, dass die Beziehungsbiografie Erika und Klaus Manns ihren Anfang am Familiengrab der Familie Mann in Kilchberg nimmt, das Linde Salber pochenden Herzens als Ich-Erzählerin besucht, realisiert sich hier der reißerische Klappentext: "Schnelle Autos, Verführung, Macht und Drogen" bestimmen die Lebensschilderung von "Eri" und "Eissi", die damit kongenial Heinrich Breloers "Jahrhundertroman" folgt. Auch hier hält die Autorin am Bewährten fest und beginnt ihre Erzählung mit der Kindheit der Geschwister, der Schilderung des Zwillingsdaseins, das sie über Stationen wie dem "Mimikbund", der Zeit in der "Bergschule Hochwaldhausen", der Reiseflucht in das Berlin der wild-goldenen 1920er-Jahre und der Weltreisen behandelt. Eingebettet ist diese Lebens- und Leidensgeschichte in einen familiären Kontext, der vom apollinischen Zauberkünstler Thomas Mann bestimmt wird.

Am Anfang des Buchs standen die Fragen nach der "besonderen Gestalt" der Geschwisterbeziehungen, nach den psychologischen Prozessen, die den Beziehungen zugrundeliegen und ihren Teil am Werden der jeweiligen Künstler beitragen. Linde Salber bleibt Antworten schuldig.

Im Falle von Gertrude und Leo Stein - soviel sei gesagt - versucht sie das "Besondere" über den bloßen Gegensatz aufzulösen, dem Künstlergenie den zu akademischen, zu theoretischen Bruder gegenüberzustellen. "Es gibt keinen Grund dafür, aber ich war es und er war es nicht", zitiert Salber dankbar die US-amerikanische Schriftstellerin - "Geniale Geschwister" verbleibt auf dieser Ebene, bietet aber dennoch gut erzählte, komprimierte Künstlerbiografien.


Titelbild

Linde Salber (Hg.): Geniale Geschwister. Elisabeth und Friedrich Nietzsche, Gertrude und Leo Stein, Ana Maria und Salvador Dali, Erika und Klaus Mann.
Piper Verlag, München 2007.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783492046756

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