Leseabenteuer

Inge Wilds Aufsatzsammlung zur Kinder- und Jugendliteratur

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten mit Kinder- und Jugendliteratur wissenschaftlich beschäftigt hat, ist öfters auf den Namen Inge Wild gestoßen. Nun hat die Germanistin unter dem Titel "Rollenmuster - Rollenspiele" zwölf Aufsätze über "literarische Erkundungen von Pubertät und Adoleszenz" in einem Sammelband vorgelegt.

Elf der zwölf Beiträge waren zwischen 1992 und 2003 bereits in Zeitschriften und Sammelbänden zu lesen. Unveröffentlicht war bis dahin nur der letzte Beitrag unter dem Titel "Vaterlose Gesellschaft? Bilder und Suchbilder des Vaters in Marita de Stercks Zoe schweigt und Jostein Gaarders Das Orangenmädchen", um in diesem das Fazit zu ziehen: "Viele aktuelle Jugendromane betreiben mit großer Ernsthaftigkeit und einigem literarischem Anspruch das Ausloten der psychischen Prozesse der adoleszenten Übergangsphase. Jugendliche Identitätssuche gestaltet sich gegenwärtig durch das Fließendwerden der Geschlechterrollen sowie die Variation oder Kombination alter und neuer Familienformen oft schwierig. Dabei geht es inzwischen weniger um Konfrontation der Geschlechter und Generationen als darum, kulturelle Konstanten auch in neuen Gefühlskonstellationen und den verschwimmenden Konturen von Autorität zu bewahren."

Bis zu diesem Resüme schreitet Wild ein weites Feld ab und zeigt dabei zugleich nicht nur die "ästhetische Eigenständigkeit des Gegenstands", sondern auch enorme Wandlungsprozesse spätestens nach der "Kinderliteraturreform von 1970", die die "Gattung um Themen, Motive und Darstellungsformen" ungemein bereicherten. Dies "reichte von einer mitunter streng ideologisch geprägten antiautoritären Konzeption bis zur fröhlich-anarchischen Subversion." So lassen sich in der Perspektive Wilds immer auch neue Erziehungsziele, gewandelte Familienbilder und geänderte Elternrollen und Familienbilder beschreiben - dies geschieht in vier Kapiteln.

Zunächst widmet sich die Autorin psychoanalytischen Prämissen der "prototypischen Gestaltung einer schwierigen Beziehung" - nämlich der Mutter- und Sohn-Bindung in "Erich Kästners Familiengeschichte/Familiengeschichten". Das nächste Kapitel gilt dem Wandel der "Mädchenbilder" vor allem anhand von Texten Christine Nöstlingers, während das folgende Kapitel in sechs Beiträgen "ernste und komische Aspekte des Wandels von Geschlechter-, Familien und Generationsrollen" - wiederum mit einem starken Fokus auf Texte Nöstlingers - diskutiert, bevor abschließend "Bilder und Suchbilder des Vaters" zur Sprache kommen.

Bereits eingangs sind es familiäre Bilder und Suchbilder, denen Wild unter dem Titel "Die Phantasie vom vollkommenen Sohn" in Erich Kästners Kinderromanen "in psychoanalytischer Sicht" vor der Ausgangsthese nachspürt, dass Kästners kinderliterarische Texte "das Beziehungsdrama der bürgerlichen Kleinfamilie" inszenieren. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Kästner mit seinem "kinderliterarischen Werk" maßgeblich "kindliche Selbstbilder und erwachsene Bilder von Kindheit im 20. Jahrhundert" mitgeprägt hat, mag man kritisieren, dass Wilds literaturpsychologische Sicht vielleicht zu eindimensional auf den realen Autor Erich Kästner fokussiert bleibt und sich nicht weitere Dimensionen des Textes zu erschließen vermag. Doch führt sie eine stringente Argumentationskette vor, die den Blick sowohl auf den Autor von Kinderbuchklassikern als auch den Verfasser des Großstadtromans "Fabian" schärft. Im übrigen, so skizziert Wild in einem weiteren Aufsatz mit dem Titel "Die Suche nach dem Vater", sind die Väter bei Kästner zwar schwach gezeichnet oder aus dem Text von vornherein eliminiert, dennoch wird "väterliche Autorität" aufrecht erhalten - und zwar von den Söhnen.

Im Kapitel "Mädchenbilder im Wandel" sind die spannendsten Beiträge ",In Zukunft wollte sie alles anders als ihre Mutter machen'. Zum weiblichen Generationskonflikt in der zeitgenössischen Literatur" und "Neue Bilder weiblicher Adolenszenz" - untersucht an Texten Christine Nöstlingers und Inger Edelfeldts. Vor allem die "Enttabuisierung von Sexualität" macht Wild dabei als "eines der entscheidenden Merkmale des neuen Mädchenbuchs" aus. Nöstlingers "Pfui Spinne" aus dem Jahr 1980, die Narration einer jugendlichen Liebesbeziehung ist zugleich eine Geschichte der "Entwertung elterlicher Lebensmodelle" und einer "Verlängerung und Individualisierung der weiblichen Adoleszenz. Im Prozeß der Auflösung festgeformter Geschlechtsrollenzuweisungen und der Verringerung der Distanz zwischen den Geschlechtern lösen sich das kulturelle Bild der jeune fille und damit auch Restformen der Ästhetisierung von Mädchenhaftigkeit und Weiblichkeit im Medium des Mädchenbuchs zunehmend auf."

Letztlich - und dies ist ein Fazit, das Wild zu Recht in abgewandelter Form zieht - spiegeln sich im Medium der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur "Wandlungsprozesse des traditionellen familiären Rollengefüges und Rollenangebots in vielfältiger Form; elterliche Autoritätspositionen sind keineswegs mehr sakrosankt, und die Thematisierung von familiären Beziehungsproblemen muß nicht mehr gerechtfertigt werden, wie Erich Kästner dies im Doppelten Lottchen noch tut." Für eine Vielzahl solcher Wandlungsmomente den Blick geschärft zu haben, ist das nicht geringe Verdienst dieses Sammelbandes.


Titelbild

Inge Wild: Rollenmuster - Rollenspiele. Literarische Erkundungen von Pubertät und Adoleszenz. Gesammelte Aufsätze zur neueren Jugendliteratur.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
280 Seiten, 51,50 EUR.
ISBN-13: 9783631526613

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