Ein Knäuel loser Fäden

Michael Ondaatje überrascht mit einem experimentellen, realistischen Roman

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte einer unmöglichen Liebe erzählt Michael Ondaatje, einer der vielen ewigen Nobelpreiskandidaten, in seinem neuen Buch. Wieder einmal, denn auch in seinen anderen Romanen spielt sie meist eine Haupt- oder Nebenrolle. In "Divisadero" ist es die Geschichte von drei Kindern, die zusammen aufwachsen: Anna, ein Mädchen, dessen Mutter bei der Geburt stirbt, und die beiden Waisen Coop und Claire, die Annas Vater adoptiert und die bei ihm auf der Farm aufwachsen. Als sich der 20-jährige Coop in die 16-jährige Anna verliebt, werden sie vom Vater ertappt, Coop wird halbtotgeschlagen und verschwindet. Die Familie bricht auseinander.

Coop wird professioneller Spieler und Dealer, Claire Anwaltsgehilfin in San Francisco, Anna studiert Literatur und zieht schließlich nach Dému bei Toulouse, um dort den Lebensspuren eines fast vergessenen Schriftstellers aus der Zeit zwischen den Weltkriegen nachzugehen, der nach sieben erfolgreichen Romanen verstummte und sich völlig zurückzog.

In vielen Splittern und sehr fragmentarisch, ganz und gar nicht stringent und bestsellermäßig erzählt Ondaatje die Geschichte dieser drei unterschiedlichen Personen. Er erzählt von Coops Ankunft am Lake Tahoe, von seinem Aufenthalt in einer ehemaligen Militärbasis in der Wüste von Nevada, von seinen Erfolgen in Las Vegas, nach denen er schließlich in allen großen Kasinos Hausverbot hat. Gleichzeitig erzählt Ondaatje von Anna, die in Südfrankreich einen Mann kennenlernt, der als Kind viel Zeit bei dem alten Schriftsteller verbrachte, und von Claire, nach vielen Jahren zufällig Coop wiedertrifft.

Man lasse sich aber von der scheinbar konventionellen Art nicht täuschen, in der Ondaatje kapitelweise von seinen Personen erzählt. Nach und nach entpuppen sie sich als Facetten einer Person. In fast nabokovscher Manier lässt er seine Erzählkunst schillern, verwischt die Identitäten von Anna und Claire, zeigt die Nebenfiguren in größtmöglicher Unschärfe oder als Schatten der Erinnerung und spielt unaufdringlich mit Farb- und Dingsymbolen, die eine flirrende, unwirkliche Atmosphäre erzeugen, wie das "Rot und Schwarz", das auf Stendhal und die Spielkarten verweist, oder die sich häufig ähnelnden Biografien verschiedener Personen. Einmal, um ein deutliches Zeichen zu setzen, bricht Ondaatje die Erzählung sogar abrupt ab, um sie nach der skizzenhaften Biografie des Schriftstellers Lucien Segura wieder anzufangen.

Die deutlichsten Hinweise auf den Kunstcharakter seiner Personen und Geschichten gibt er, wenn er die Bruchstücke der Biografie pointiert zeigt, wenn Anna über ihr eigenes Leben nachzudenken beginnt: "Denn wir leben mit dem, was wir aus der Kindheit wieder zusammenfügen und was unser Leben lang miteinander verschmilzt und widerhallt, wie die Glasstückchen in einem Kaleidoskop immer neue Formen bilden, deren Refrains und Rhythmen musikalisch sind, sich zu einem Monolog fügen. Wir erleben unablässig unsere eigene Geschichte wieder, einerlei, welche Geschichte wir erzählen."

"Divisadero" ist das spanische Wort für Teilung oder Trennung, und "divisar" heißt "etwas aus der Ferne betrachten". Das ist das Thema dieses großartigen, anspruchsvollen und komplizierten Buchs: wie man ein zerbrochenes Ganzes wieder zusammenfügt, "aus der Ferne". Aber dazu muss man einen Schritt zurücktreten, muss sich und die anderen aus einer gewissen Distanz sehen, muss die vielen Leben, die vielen Bruchstücke in großem Zusammenhang betrachten, denn jedes Detail ist wichtig, alles Verlorene, selbst die Toten sind "unersetzlich wie unterirdische Wasseradern". Muss sie selbst erzählen. Aber wie macht man das? Als Roman in der Manier der großen Realisten? Oder als Text aus lauter Bruchstücken?

Die sehr komplexe Erzählstruktur bewahrt den Roman allerdings auch vor dem Absturz in den Kitsch. Denn Ondaatje hat in manchen Passagen, wie auch in seinen größten Erfolg, "Der englische Patient", einen leichten Hang zum preziösen Kitsch, zur esoterischen Formulierung, wird dann zu einer Art Coelho für Gebildete. Aber es gibt bei ihm auch sehr gefühlvolle und stimmige Passagen, unberechenbare Charaktere und Sätze von bleibender, großartiger Schönheit. Es gibt, wie immer bei ihm, ein dicht geknüpftes Netz von Beziehungen, historischen Dokumenten, literarischen Zitaten und vielen kleinen Abhandlungen. War es in "Der englische Patient" beispielsweise diese unvergessliche Passage über die vielen verschiedenen Windarten in der Wüste, sind es in "Divisadero" Abschnitte über das Pokerspiel, die Tradition der Charivaris oder das Sanskritwort Gotraskhalana, die nicht nur von den Recherchen des Autors künden, sondern auch ausführliche Metaphern über das Leben sind. Und auch seine Personenzeichnungen führen manchmal in fast mystische Gefilde, wenn er von heiligen Spielern, seltsamen Getriebenen, grausamen und zärtlichen Menschen erzählt, von Uhrmachern und Bauern, von Menschen, die in und mit der Natur leben.

Am Schluss fügt Ondaatje natürlich nicht alles zusammen: Überall lässt er die losen Ende seiner Erzählungen herumliegen, verknüpft sie nicht, sondern verlässt sich ganz auf den Leser, der sie selbst zusammenknüpft, wie es ihm gefällt. Oder sie auch liegenlässt. Denn das Leben, das Ondaatje so experimentell beschreibt, dass es schon wieder extremer Realismus ist - wie etwa bei Arno Schmidt -, ist nicht so gnädig, alles wieder zusammenzufügen. Das Leben ist selbst ein Knäuel loser Fäden. Ein Tablett voller glitzernder snap-shots.


Titelbild

Michael Ondaatje: Divisadero.
Übersetzt aus dem Englischen von Melanie Walz.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
276 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446209237

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