Die Stasi lebt

Hubertus Knabe zeigt in "Die Täter sind unter uns" die Fehler auf, die nach der Wiedervereinigung gemacht wurden

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieter von Wichmann wurde 1961 wegen versuchter Republikflucht festgenommen. Mehrere Monate saß er dafür als Häftling 123 in der zentralen Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen ein. Inzwischen arbeitet er in der Gedenkstätte Hohenschönhausen und führt als ehemaliger Häftling des berüchtigten Mielke-Knasts durch die Räume der ehemaligen zentralen Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit. Am 14. November 2006 führte er nicht wie so oft eine Schulklasse, sondern Bundespräsident Horst Köhler nebst Gattin Eva Luise durch die Gebäude der Gedenkstätte, begleitet von einem beachtlichen Pressetross. Am folgenden Tag geschieht das Ungeheuerliche: Dieter von Wichmann wird von seinem einstigen Vernehmer, dem ehemaligen Oberst Peter Pfütze angerufen. Er würde Lügen verbreiten, sie hätten sich damals doch "sehr gut miteinander unterhalten", muss sich Wichmann am Telefon anhören.

Ein ungeheuerlicher Vorgang, 16 Jahre nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Dabei ist es nur eine der vielen unglaublichen und absurden Geschichten, die der Historiker und Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen Hubertus Knabe für sein Buch "Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur" gesammelt hat. Detailliert und faktenreich geht Knabe der Frage nach, warum die einstigen Täter heute dermaßen dreist ihre alten Parolen anstimmen und neue Drohgebärden einnehmen können. Seine Antwort ist so einfach, wie sie schlicht ist: Die meisten Täter von gestern leben heute unbestraft und unbescholten in der Bundesrepublik. Und je länger ihr Leumund unangetastet bleibt, desto unverblümter werden die Versuche der Geschichtsverfälschung.

Zuletzt sorgten elf hochrangige Stasi-Funktionäre für Aufsehen, als sie an die Universität ins dänische Odense eingeladen wurden, um dort zum Thema Auslandsspionage zu referieren. Dort trugen die alten Recken des realsozialistischen Überwachungsstaates wenig zum tatsächlichen Thema bei, konnten aber einmal mehr ihre revisionistischen Ansichten an prominenter Stelle vortragen. Was ist in den mehr als 15 Jahren Vergangenheitsaufarbeitung schief gelaufen, fragt Knabe, dass derlei Veranstaltungen heute möglich sind? Sein Aufklärungsbuch über die Machenschaften der alten DDR-Kader soll auch einen Beitrag dazu leisten, die in weiten Teilen der Bevölkerung herrschende "Unkenntnis über die Realität der kommunistischen Diktatur und das Ausmaß politischer Verfolgung in der DDR" zu beseitigen.

Die wenigsten der ehemaligen Übeltäter des DDR-Regimes - und dazu gehörten nicht nur die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, sondern auch verdiente Parteibonzen und Wirtschafts-Kader - sind nach dem Zusammenbruch der DDR tatsächlich bestraft worden, so Knabe. Die Ursache dafür liege im Einigungsvertrag begründet, der sich mitnichten mit der Bestrafung der Täter auseinandergesetzt habe. In der Folgezeit hätten es die Politiker versäumt, ein besonderes Recht der Strafverfolgung von DDR-Verbrechen zu schaffen. Da das Bundesverfassungsgericht die Verfolgung von DDR-Verbrechen auf "den Bereich schwersten kriminellen Unrechts" beschränkt hatte, blieben die meisten "minder schweren Vergehen" unbestraft. Die Aufgabe der Täterbestrafung habe man damals "dem Selbstlauf der Justiz überlassen".

Die praktischen Folgen, die diese Entscheidung der Karlsruher Richter hatte, macht Hubertus Knabe eindrucksvoll deutlich: Die das Regime stützenden DDR-Richter, Gefängniswärter sowie Grenz- und Sicherheitsbeamte blieben weitgehend unbestraft und wurden meist mit Bewährungsstrafen verurteilt. Ein Großteil der Mitarbeiter der Staatssicherheit erhielt mit der Übernahme des DDR-Beamtenapparates einen Posten im öffentlichen Dienst. Bis 2005 machte man allein in den neuen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin mehr als 28.000 frühere Stasimitarbeiter, was rund fünf Prozent der Angestellten entspricht, ausfindig. Auch in den öffentlichen Rundfunk-Anstalten und im Zeitungswesen tummelten sich offizielle und inoffizielle IM's. Die Beseitigung der das Regime stützenden Amtsinhaber von ihren Posten, die so genannte Lustration, ist im wiedervereinigten Deutschland fatal misslungen.

Dazu komme, dass sich die Opfer des sozialistischen Unrechtsstaats von der Rechtsprechung geradezu verhöhnt fühlen müssen. Während die Gerichte bei den Übeltätern des Regimes eine seltsame Milde walten ließen, stehen die Opfer unter einem kaum gekannten Rechtfertigungsdruck. Fast alle alten Kader, Staatsbedienstete und Unterstützer des Regimes erhalten noch heute Sonderrenten und Zusatzversorgungen, während die Opfer in vielen Fällen leer ausgehen oder sich mit almosenähnlichen Ausgleichsbeträgen zufrieden geben müssen. Exemplarisch für die Verhöhnung der DDR-Opfer steht der 9. Mai 2001, an dem der Bundestag eine pauschale Ehrenpension für Opfer des SED-Regimes in Höhe von 1.000 Euro ablehnte, jedoch den ehemaligen DDR-Eliten Rentennachzahlungen und -verbesserungen in einer Gesamthöhe von 1,4 Milliarden zubilligte. Es ist daher alles andere als unzulässig zu behaupten, dass die Privilegierten der SED-Diktatur die eigentlichen Gewinner der Wiedervereinigung sind. Dabei mutet es geradezu absurd an, dass in den Folgejahren der Wende ausgerechnet diejenigen das Geld für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der neuen Länder einstrichen, die das Land bis zum Bankrott heruntergewirtschaftet hatten, so Knabe.

Selbst der Ermittlung von Stasi-Mitarbeitern und Unterstützern sowie Profiteuren des SED-Regimes hat der bundesdeutsche Rechtsstaat de facto eine absurde Absage erteilt. Immer öfter wehren sich die Enttarnten prozessual gegen die Aufdeckung ihrer zurückliegenden Tätigkeiten. Und die Pressekammern der Landgerichte unterstützen sie dabei. Immer öfter wird die freie Berichterstattung unterbunden, indem sich die Richter auf die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen berufen. Unter hohen Bußgeldandrohungen wird es zum Beispiel Journalisten und Historikern untersagt, prominente Kläger als IM's zu bezeichnen, selbst dann nicht, wenn ihre Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst nicht im Geringsten angezweifelt wird. Bestes Beispiel ist hier der Fall des inzwischen verstorbenen Schauspielers Ulrich Mühe, dem gerichtlich untersagt wurde, seine Ex-Frau mit einer inoffiziellen Stasitätigkeit in Verbindung zu bringen. Mühe hatte dies in einem Begleitbuch zu dem mit dem Oscar prämierten Stasidrama "Das Leben der Anderen" erwähnt. Alles in Allem hätten sich insbesondere die Pressekammern des Berliner und Hamburger Landgerichtes durch zweifelhafte Entscheidungen zu wahren Pressezensurinstanzen zugunsten der alten Machthaber entwickelt, berichtet der Historiker.

Heute dient die Linkspartei beziehungsweise die ehemalige PDS dient den alten Kadern und DDR-Interessensorganisationen als politisches Sprachrohr, welches die Forderungen der ehemaligen Parteibonzen, Grenzsoldaten, Mitarbeiter der Staatssicherheit und übrigen DDR-Anhänger an die Öffentlichkeit und in die Parlamente trägt. Einzelne Mitglieder der Linkspartei, dies belegt Knabe in aller Deutlichkeit, sind mit den diversen Stasiverbänden eng vernetzt und hängen deren Gedankengut in alter Treue an. Dies zeigt auch das 1998 ausgegebene Bundstagsmandat der PDS für den ehemaligen Rektor der Berliner Humboldt-Universität Heinrich Fink, der als IM "Heiner" für die Stasi tätig war. Inwiefern das alte, die Geschichte verfälschende Gedankengut in der Partei verankert ist, bewies PDS-Vorstandsmitglied Sarah Wagenknecht 1992 in einem Zeitungsartikel. In diesem verharmloste die heutige Europaparlamentarierin mit der Stalin-Zeit eines der grausamsten Terrorregime der Menschheit: "Was immer man - berechtigt oder unberechtigt - gegen die Stalin-Zeit vorbringen mag, ihre Ergebnisse waren jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung, sondern die Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne Großmacht". Und auch heute trommelt die ultralinke Politikerin für die radikalsozialistischen Regime - mit dem Unterschied, dass diese nun Lateinamerika zu finden sind.

Die unterlassene Strafverfolgung der DDR-Verbrechen, die absurde Schlechterstellung der DDR-Opfer gegenüber den Tätern hinsichtlich der Entschädigungsleistungen und Rentenversorgung und die juristische Verhinderung der individuellen Vergangenheitsaufklärung haben dafür gesorgt, dass sich die Täter von gestern in dreister Manier als Unschuldslämmer der Geschichte hinstellen. Auf ihren revisionistischen Veranstaltungen verharmlosen sie die DDR-Diktatur und ihre eigene Schuld, während ihre Opfer nur Spott und Hohn ernten. Deren Leidensgeschichten werden meist zu Phantasieprodukten und Hirngespinsten erklärt. Opfer werden immer wieder beschimpft oder als Störer aus Veranstaltungen gezerrt.

"Die Stasi lebt!", so der Titel des letzten Kapitels des Buches, in dem Knabe dem Leser die Machenschaften der ehemaligen Partei- und Stasikader in den revisionistischen Nachfolgeorganisationen deutlich macht. Diese kümmern sich zum Beispiel um die massenhafte Verbreitung von DDR-verherrlichenden Publikationen, in denen Kritiker des Regimes und vor allem die "Gedenkstätte Hohenschönhausen" diffamiert und beschimpft werden. Oder sie kämpfen für die Beibehaltung der versorgungstechnischen Sonderbezüge ehemaliger staatstreuer Stützen des realsozialistischen Regimes, wie dies die schlagkräftigste DDR-Interessenorganisation ISOR (Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR) mit mehr als 24.000 Mitgliedern macht. Unter dem Deckmantel sozialer Fürsorge und im Namen des Allgemeininteresses betreiben diese Vereine ihre rückwärtsgewandte Politik. "15 Jahre deutsche Einheit sind auch 15 Jahre Verteufelung der DDR und der Entwertung ostdeutscher Biografien und Erfahrungen" zitiert Knabe eine ISOR-Vorstandserklärung zum Jahrestag der Wiedervereinigung im Jahr 2005.

Hubertus Knabe zitiert aus einer Unzahl von Gerichtsunterlagen, Zeitungsartikeln sowie aus Aussagen von Zeitzeugen und eröffnet so einen Zugang zu einem umfangreichen Bestand an historischem Material. Geschickt bringt er dabei die juristischen Absurditäten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, zum Vorschein. In manchen Dingen schießt er jedoch über sein Ziel hinaus, wie zum Beispiel beim kollektiven Vorwurf der Geschichtsverharmlosung angesichts der Tatsache, dass im Osten Deutschlands immer noch Straßen und Plätze nach den sozialistischen Theoretikern benannt sind. Hier muss doch vielmehr die Frage gestellt werden, ob diese tatsächlich die theoretische Vorlage für die kommunistischen Regime lieferten oder nicht vielmehr ihre kapitalismuskritischen Betrachtungen gründlich missbraucht wurden.

Und dennoch, Hubertus Knabe legt mit "Die Täter sind unter uns" ein wichtiges Buch vor, dass für ein Thema sensibilisiert, welches einen wichtigen Beitrag für die nationale Vergangenheitsbewältigung leisten kann. Man sollte nicht zwischen den beiden deutschen Terror-Regimen des 20. Jahrhunderts relativieren, betont Knabe immer wieder, denn Terror bleibt Terror und Unrecht bleibt Unrecht - in welchem Namen dies geschieht, ist letztlich unerheblich.


Titelbild

Hubertus Knabe: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur.
Propyläen Verlag, Berlin 2007.
382 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 354907302X

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