"Wen aber kümmert die Trauer der Dinge, wenn jemand stirbt?"

Im neuesten Roman von Fatou Diome kommen sie zu Wort

Von Karen StruveRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Struve

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mensch ist gestorben. Doch wer erinnert sich an die Geschichte dieser Frau, die aus dem Senegal nach Frankreich ging, um in Europa ihr Unglück zu finden, und die nach Afrika zurückkehrte, um dort zu sterben? Sind es ihre Erben, der Ehemann, die Familie und Freunde, die auf die Aufteilung ihrer Habe nach dem afrikanischen Erbritual Ketala warten?

Wer erzählt die Geschichte eines Menschen - und wer erzählt sie richtig, vollständig, in dessen Sinne? Fatou Diome findet eine ungewöhnliche Antwort auf diese Fragen: All die Dinge, die die Menschen umgeben, sind es. Das Sofa und das Kissen, in die so viele Tränen geflossen und in denen so viele Seufzer erstickt worden sind, die Perlenkette, die den Hals der Besitzerin schmückte und in deren Glanzstunden bei ihr war, die Uhr an der Wand, die die Zeit genau im Blick hatte und alle Ereignisse in Afrika und Europa so genau zu datieren weiß. Die Habseligkeiten der Frau wissen, dass sie bald aufgeteilt werden sollen und dann jedes Ding nur einen Teil der Lebensgeschichte seiner verstorbenen Besitzerin mitnehmen kann. Die alte Holzmaske an der Wand, "der Weise", beraumt daher in den ihnen verbleibenden sechs Tagen und fünf Nächten bis zum Ketala eine "Erinnerungskonferenz" an, damit jeder abwechselnd erzählen und so alle erlebten Teile der Geschichte zusammenfügen können.

Erneut erzählt die junge senegalesische Autorin Diome eine Geschichte, die Senegal und Frankreich verbindet, und in der ähnlich wie in dem Vorgängerroman "Der Bauch des Ozeans" (2004) europäische Träume zu Schäumen werden. Doch diesmal lässt sie ihre Protagonistin Memoria aus dem Senegal nach Frankreich und wieder zurückreisen. Memoria folgt dabei zunächst ihrem Ehemann Makhou nach Frankreich, wo sie in Straßburg schwierige Zeiten durchleben. Europa verliert seine schillernden Farben und wird mehr und mehr zu einem Schwarzweißfilm. Memorias Mann wendet sich sogar von ihr ab, um eine homosexuelle Beziehung zu leben. Abgewiesen, gekränkt und enttäuscht geht die junge Frau ihren eigenen Weg, ohne Bildung und Beziehungen aber gerät sie schließlich in die Prostitution. Nach anfänglichem Erfolg und Wohlstand graben sich die Spuren anderer Männer auf ihrem Körper tief in ihre Seele. Memoria wird depressiv und schließlich schwer krank. Als sie erfährt, dass der tödliche Virus in ihr steckt, fleht sie ihren Mann an, sie zurück in das Heimatland zu bringen. Er erfüllt ihr diesen letzten Wunsch und letztlich kehren beide in Schande in den Senegal zurück, die sich aus der Mittel- und Kinderlosigkeit, der Homosexualität des Mannes und der zum Tode geweihten Memoria zusammensetzt.

All dies erzählen reihum die Besitztümer von Memoria. Immer wieder unterbrechen sie sich gegenseitig; sie streiten sich über die richtige Version der Geschichte, wer welcher Begebenheit beigewohnt hat und sie daher genauer erzählen kann. Die vollbusige Holzfigur, das simple Taschentuch, der Jäger aus Holz oder das Becio, der traditionelle Lendenschurz: Sie buhlen untereinander um des anderen Gunst und werden immer wieder von einem Mann unterbrochen, der Memorias Wohnung betritt, sich tränenüberströmt auf das Sofa fallen lässt oder sich die Haare rauft und dem Ketala schließlich eine überraschende Wendung gibt.

Es sind nicht die Menschen, die hier von ihren Erlebnissen erzählen, sondern die Gegenstände, die weniger Besitztümer als Lebensbegleiter sind. Sie sind nicht Auslöser von Erinnerungen oder fantastischen Geschichten, fungieren also weder als Proust'sche Madeleine noch im Sinne einer Gautier'schen Teekanne - sie selbst werden zu Stimmen, die das Leben ihrer verstorbenen Besitzerin erst evozieren. Dabei ist dieser Roman kein kapitalistischer Kurzschluss (du bist, was du hast), sondern eine Frage danach, wer (s)eine Lebensgeschichte zu erzählen vermag (du bist, was über dich erzählt wird). Der melancholische, sentimentale Ton, der diesen Roman durchzieht und dem die deutsche Sprache in ihrer hölzernen Klangart manchmal im Wege steht, begleitet die Trauererzählungen, die zu Erinnerungs- und damit zu Lebenserzählungen werden: "Egal, ob sie draußen sind oder eingesperrt, stehen oder liegen, wachen oder schlafen", erklärt einmal der Weise, "alle Menschen versuchen eine Spur zu hinterlassen, ihren Lebensweg." Und diese Lebensspur liegt in Diomes "Ketala" in der stummen Trauer der Menschen und den wortreichen Erzählungen der Dinge.


Titelbild

Fatou Diome: Ketala. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
253 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066029

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch