Hochmut und Leutseligkeit auf dem Dorf

Ernst Jünger in neueren Biografien und Monografien

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man hat nicht mehr erwartet, daß er überhaupt stirbt", heißt es in "Abfall für alle", dem Tagebuch von Rainald Goetz unter dem 17. Februar 1998. Der Tod des "Jahrhundertschriftstellers" hatte damals hektische Betriebsamkeit in den Redaktionen ausgelöst, und auch "nachgeborene" Schriftsteller wurden gebeten, sich zu äußern: "Er war der schlechteste Schriftsteller, wie man so sagt, von Rang", urteilte Goetz, Jahrgang 1954, "das fand ich immer besonders toll. Der Nonstilist, gefoltert von stilistischen Handwerksideen zu den Vokalen, zum kleinsten Komma."

Zehn Jahre später ist das Werk dieses bemühten Nichtstilisten erschlossen und lieferbar, wenn auch nur in wenig verlässlichen Ausgaben, und es gibt eine Jünger-Philologie, die mitunter seltsame Blüten treibt. Da ist es eine vergleichsweise mutige Entscheidung für einen Literaturwissenschaftler, sich an das Genre der Biografie zu wagen - gilt die Biografie doch als Darstellungsform, die nur schwerlich unter Wissenschaft subsumiert werden kann. Einen bedeutenden Unglücksfall der Jünger-Biografik repräsentiert beispielsweise die Darstellung von Martin Meyer, der, wenn es um Daten und Fakten geht, nicht zu trauen ist. Einen neuen Versuch unternimmt der Heidelberger Ordinarius Helmuth Kiesel, der schon des öfteren durch luzide Jünger-Interpretationen aufgefallen ist.

Kritische Musterung

Helmuth Kiesel orientiert sich am Leitfaden der Bildungsgeschichte seines Protagonisten, seiner Werkentwicklung, der politischen Ereignisgeschichte und der Rezeption dieses "Zeugen des Jahrhunderts". Er gewinnt seine Fragen aus den Debatten, die dieser unbequeme Geist produziert hat, sowie aus der inneren Entstehungsgeschichte des Œuvres, das er - Stichwort "Bearbeitungsmanie" - als Variante des Work-in-progress-Konzeptes begreift. Ziemlich stupend und umsichtig sind die Verortungen Jüngers im literarischen Feld, und Kiesel scheut sich nicht, große Namen herbeizuzitieren: Joseph Goebbels (auch er ein Autor der Zeit- und Literaturgeschichte), natürlich Thomas Mann, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Paul Celan, Martin Heidegger und - last but not least - das Alter ego Friedrich Georg Jünger (schließlich der Adressat der späten Jahre).

Kiesels Darstellung tendiert über weite Strecken zur Werk-Monografie, führt - wenn es um die Darstellung von Lebensrealität geht - häufig Dichterworte an (ohne die Selbststilisierung Jüngers zu verheimlichen) und findet dann und wann auch zu trefflichen Charakterisierungen: "Hochmut und Leutseligkeit auf dem Dorf". Sie findet Vergnügen daran, der Selbstbeweihräucherung Jüngers in die Parade zu fahren, tut es aber eher leichtfüßig-ironisch als mit schwerem Geschütz. Und ebenso verfährt Kiesel auch mit Jüngers Gegnern, wenn diese zu sehr übers Ziel hinausgeschossen zu sein scheinen - auch in ihnen erkennt er Protagonisten des Zeitgeistes, deren Wut heute kaum noch verständlich, auf jeden Fall aber unhistorisch scheint. Es ist offensichtlich ein guter Zeitpunkt für Biografien - man kann gelassener mit seinem Gegenstand umgehen als noch zu Zeiten der "Streit-Zeitschrift" oder der Verleihung des Goethepreises vor 25 Jahren.

Fast ein blinder Fleck bleibt Jüngers Leidenschaft für die Entomologie (oder auch "Entomophilie"), der der Dichter immerhin die Hälfte seines Lebens und große Teile seines (teils freilich noch unerschlossenen) Werkes gewidmet hat - und die seit der Goslarer Zeit zunehmend intensiv auch literarisch fruchtbar betrieben wurde. Ihr literarischer Gewinn bleibt in Kiesels Darstellung unterrepräsentiert, wiewohl man zugeben muss, dass er auch schwer zu konzeptualisieren ist.

Insgesamt zielt Kiesels Darstellung auf eine moderate Vermittlung zwischen einem (man mag das Wort gar nicht mehr sagen) "umstrittenen" Autor und uns, für die dieser sein Werk gestiftet hat. Sie möchte Jüngers Leben und Werk einer "kritische[n] Musterung" unterziehen und dabei die "geschichtlichen Umstände" berücksichtigen. In scharfer Abgrenzung von den Verdikten Hans-Ulrich Wehlers (in dessen "Deutscher Gesellschaftsgeschichte") will sie "relativieren dürfen", was an Urteilen zur einen oder anderen Seite zu stark ausgeschlagen sei. Im Ergebnis führt diese Haltung zu einer wohltemperierten Darstellung ohne größere Extreme.

Prüfstein der Gesinnung

Heimo Schwilk, Redakteur der "Welt am Sonntag", äußert sich emphatischer, auch kämpferischer, wenn man so will, bei der Erklärung seiner Darstellungsziele. Er rückt Jünger in die Nähe Johann Wolfgang Goethes (und folgt damit einer Strategie der späten Tagebücher "Siebzig verweht"): "Sein ganzes Werk kreist um die Frage nach dem ,élan vital', nach jener Kraft, die das Lebendige in immer neuen Formen schafft." Der faustische Sucher, mal als "Mythos", mal als "Mystiker" intoniert, stelle einen "Prüfstein der Gesinnung" dar.

Schwilk gelingt es meisterlich, die Deutungsangebote Jüngers aufzugreifen, ohne ihrer Deutungsmacht zu erliegen. Stellt man auch bei ihm die Frage nach der scheinbar abwegigen Leidenschaft für die Käferjagd, so ist sie hier besser repräsentiert: "Subtile Jagden" (bei Jünger der terminus technicus für die Suche des Entomologen nach seiner Spezies) wird als "Erinnerungsbuch" an den Vater eingeführt, der bei Victor Meyer in Heidelberg promoviert hatte, aber "mit den Tugenden der Pflanzen" (sic!) weniger vertraut gewesen sei als mit ihrem Chemismus. Der Vater war es auch, der dem Sohn einst den ersten Sammelkasten für diese "krabbelnde Bijouterie" (Peter von Matt) geschenkt hatte, nebst einem Bestimmungsbuch ("Der Käferfreund"). Im Ersten Weltkrieg dann wird Jünger, diesbezüglich ein später Nachfahre des französischen Generals Jean François Aimé Dejean, die Gefechtspausen nutzen, um seine Sammlung der Caraben zu erweitern: "Am Nachmittag sammelte ich in Monchy Käfer. Die Engländer schossen eine Menge Granaten in die Dorfausgänge", heißt es im Kriegstagebuch am 11. März 1916.

Heimo Schwilk ist ad fontes gegangen und zitiert überwiegend aus dem in Marbach liegenden Nachlass. Das ist vorbildlich und auch notwendig, denn es ist ein geläufiges Problem der Jünger-Philologie, dass wir es bei ihm mit unzuverlässigen Werkausgaben (und folglich auch Lizenzen) zu tun haben, die die "Bearbeitungsmanie" des Autors nicht dokumentieren. Man erinnert sich an den entsetzten Aufschrei Helmut Kraussers (in "Mai. Tagebuch des Mai 1992"), als er gerade die ("Letzt"-)Ausgabe der "Strahlungen" im Deutschen Taschenbuch Verlag erworben hatte: "Mich traf fast der Schlag: genau jene 16 Zeilen, die ich in Melodien zitieren will, fehlen. [...] Unfaßbar. Wie kann man eine so geniale Stelle streichen?"

Krausser versteht nicht, dass die Arbeitsweise Jüngers (einschließlich der "Fassungen") etwas mit der intellektuellen Biografie eines Autors zu tun hat, der vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, die NS-Diktatur und die Bundesrepublik bis hin in das wiedervereinigte Deutschland ständig neuen Anfeindungen ausgesetzt war, denen er durch Eingriffe ins Werk zu begegnen suchte. Es sind dies implizite Kommentare eines Verfassers, der sich nicht kommentieren und nicht rechtfertigen wollte, aber doch um Klärung und Klarstellung seiner historischen und seiner (jeweils) aktuellen Position bemüht war, im "ständigen Lavieren [...] mit der Öffentlichkeit". Somit war sein Werk nicht sub specie aeternitatis verfasst, sondern als Ausweis einer Zeitgenossenschaft, mit der es sich wandelte, auch im Sinne einer "moralisch motivierte[n] Selbstrevision".

Bisweilen gewinnt man den Eindruck, Jünger müsse sich nicht nur seiner Feinde, sondern auch seiner Freunde erwehren, etwa Armin Mohlers, des langjährigen Sekretärs, und später seines Übersetzers Henri Plard. Die Reihe der Vereinnahmungen durch Politiker (Helmut Kohl, François Mitterrand, Felipe Gonzales) und andere Zeitgeistritter nimmt kein Ende - ausgedehnte Reisen als Fluchten vor der gehässigen oder der schulterklopfenden Zeitgenossenschaft sind die Folge.

Heimo Schwilk gewinnt, wie auch Kiesel, die intellektuelle Biografie Jüngers aus den Verwerfungen der politischen Ereignisgeschichte (besonders der Kriegsgeschichte), den Lektüren (Goethe, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer), der Käferleidenschaft (wo dem Sammler "im Mikrokosmos der Kleintierwelt die makrokosmische Totalität des Seins aufgeht") und der "geistigen Kameradschaft", die Jünger nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg mit den verfemten Intellektuellen aus der Zeit der Barbarei zu teilen sucht: Gottfried Benn, Carl Schmitt, Hans Speidel, Martin Heidegger, Gerhard Nebel, Ernst Niekisch, Hugo Fischer, Franz Schauwecker, Friedrich Hielscher und anderer.

Anregungen und Rettungen

Keinen großen Wurf, aber eine Sammlung bemerkenswerter Miszellen repräsentiert Hans Blumenbergs Buch "Der Mann vom Mond", das von Alexander Schmitz und Marcel Lepper aus dem Nachlass des Philosophen zusammengestellt wurde. Man merkt ihm den Charakter des Vorläufigen, Beiseitegesprochenen, Unfertigen überall an, aber das muss nicht unbedingt stören, wenn man die Texte als Anregungen begreift oder auch als "Rettungen" im Sinne Lessings. Der Titel spielt auf Jüngers "Sizilischen Brief an den Mann im Mond" (1930) an, der nicht eigentlich ein Brief ist, sondern die typische Prosamischform der Essays (wie "Das abenteuerliche Herz", "Annäherungen" oder "Subtile Jagden") aufnimmt beziehungsweise vorwegnimmt.

Der Mann im Mond (beziehungsweise vom Mond) repräsentiert dabei den Beobachter, der aus der Ferne das Numinose des Erdenlebens wahrnimmt und vom Erzähler erläutert bekommt. Als Egos Begleiter am Firmament überblickt er die Bewegungen auf "exotische[m] Terrain", seien es Kriegshandlungen, Naturkatastrophen oder Auswüchse des modernen Städtebaus, und erfreut sich an der Schönheit des Ornaments - mag es auch aus dem Verbrechen resultieren. Blumenberg bemüht hier den Aufklärer Voltaire, der seinerseits mit dem Gedanken gespielt hatte, die Erde von Außerirdischen inspizieren zu lassen - dabei verkörperten die Gesandten von Sirius und Saturn die höhere, die überlegene Kultur, die sich vom Anblick des Primitiven irritiert und belustigt zeigt.

Während also die Menschenordnung lachen macht, repräsentiert die Ordnung der Natur den Ernst der Schöpfung. Aber auch hier ist Heiterkeit möglich - in Gestalt lustvoller Erkenntnis einer geheimen oder offenbaren Systematik, wie Carl von Linné sie beschrieben und mithilfe seiner bis heute gültigen Nomenklatur fasslich gemacht hat. Blumenberg knüpft hier den weiterführenden Gedanken an, dass die "subtile Jagd" das Gegenteil der Gottsuche sei, denn "was es nur ein einziges Mal gäbe, wäre nicht einmal der Namengebung durch den wert, der es wahrgenommen hätte." Blumenberg vertritt also ein Deus-sive-natura-Modell, das auf den Eidos setzt: "Ein anderer Liebhaber muß noch verstehen können, was die Beute des subtilen Jägers gewesen war, die er vielleicht niemals erjagen wird und doch erjagen könnte."

Mit philosophischer Gebärde intoniert Blumenberg den Sammler winziger Laufkäfer und großer Sentenzen (sowie "letzter Worte") als Platoniker, der rauschhaft und genügsam zugleich gelebt habe (und auch so starb - doch hat Jünger Blumenberg überlebt).

Ohne Nimbus, ohne Geheimnis

Und wie und woran starb er, der Dichter, vor nunmehr zehn Jahren? An "Herzschwäche", konstatiert Heimo Schwilk lapidar, während Kiesel ausführt, "Ende Januar 1998 mußte Jünger mit einem grippalen Infekt und einem Magenleiden ins Kreiskrankenhaus Riedlingen eingeliefert werden. Mit Infusionen war nicht mehr zu helfen; eine Operation hat er ausgeschlagen. Am Dienstag, dem 17. Februar, starb er, frühmorgens, im Beisein seiner Frau."

Der Tod bleibt hier ohne Nimbus, ohne Geheimnis - ohne Erwähnung des Zeckenbisses etwa, der den Dichter schwächte und von dem er sich nicht mehr erholte - ein würdiger oder ironischer Gegenschlag der Fauna, und vermutlich der schwerste seit jener Attacke eines Rochens, von der Jünger in "Siebzig verweht" so eindrucksvoll erzählt hatte. Lediglich Hans Blumenberg widmet dem Zeckenbiss und dem durch ihn vermutlich ausgelösten Herzinfarkt eine eigene Betrachtung: "Keine Phantasie hätte diese Exaktheit von Konfiguration ausdenken können." Bedeutsam wird dieser Tod jedoch erst anderswo, etwa in der Darstellung von Rainald Goetz: "Daß der Tod, den er im Übermut der Jugend herausgefordert hatte, ein überlanges Leben nicht von ihm weichen wollte - das [ist das] vielleicht schrecklichste, traurigste und menschlichste Bild dieses Lebens. [...] Jetzt ist er da, endlich angekommen. Die Götter und Geister, die um ihn waren, denen er diente und sich verantwortlich fühlte, werden ihn führen, in diesen Stunden und Tagen. Es ist ein herrlicher, kalter Tag über Berlin. Er geht jetzt da hinaus. Traurig sind nur wir, die Sterblichen."

Titelbild

Hans Blumenberg: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger.
Herausgegeben von Alexander Schmitz und Marcel Lepper.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
186 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518584835

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben.
Piper Verlag, München 2007.
623 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783492040167

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Titelbild

Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie.
Siedler Verlag, München 2007.
717 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783886808526

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