Max Frisch ist kein Regenschirm

Meike Heinrich-Korpys untersucht "Tagebuch und Fiktionalität" bei Max Frisch

Von Malte HorrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Horrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Frisch ist kein Regenschirm! Friedrich Dürrenmatt schon. Sein Thema waren stets die Probleme der ganzen Menschheit, nie er selbst, nie seine eigenen Probleme: "Ich stellte mich in meinem ganzen Schreiben auf die Seite wie einen Regenschirm, den man irgendwo vergaß. Frisch stellte sich zur Diskussion, sein Leben, seine Ehe. Ich muss gestehen, dass ich ihn darum liebe, auch jetzt, als meinen dialektischen Gegensatz."

Ein wahres Wort, gelassen aufgeschrieben. Was bei Frischs Schriftsteller-Kollegen Dürrenmatt einfach nur eine unaufgeregte Bewunderung hervorruft, hat sich für Literaturkritik und Literaturwissenschaft als immenser Problemberg aufgetürmt, hat ihr unproduktive Fragen mit abstrusen Antworten eingebrockt. Immer wieder wird zu sehr versucht, Frischs Werk autobiografisch zu interpretieren. Noch viel stärker als bei seinen Protagonisten Walter Faber, Herrn Geiser, Stiller oder gar Don Juan drängt sich diese Lesart schlechterdings bei den von Frisch selbst so betitelten "Tagebüchern" auf. Und auch andere Interpretationen der Tagebücher sind gängig: als Stoffarchiv für Frischs weiteres literarisches Schaffen oder als allgemeine Gesellschaftsphilosophie.

Meike Heinrich-Korpys hebt sich mit ihrer Dissertation "Tagebuch und Fiktionalität" wohltuend von diesen gängigen Interpretationsmustern ab: "Es sollten fiktionsstiftende Signalstrukturen in Tb I und Tb II aufgezeigt und deren Einfluss auf den Geltungsanspruch der beiden Tagebücher überprüft werden." Einfach gesagt: Die Autorin will die wesentlichen Elemente der Texte auf ihre Wirkung hin untersuchen und erörtern, wie dies zu bewerten ist.

Dieser wirkungsästhetische Ansatz geht über eine bloße Einordnung der einzelnen Kapitel der Tagebücher in bestimmte Textgruppen hinaus. Damit lässt Heinrich-Korpys die bisherigen Grenzen der Forschung zu den Frisch'schen Tagebüchern hinter sich. Auf das literaturwissenschaftliche Neuland, in das sie sich mit ihrer Untersuchung begibt, hat sie sich gut vorbereitet: In zwei Hauptkapiteln arbeitet sie die theoretischen Grundlagen zur Fiktion und zu Tagebuchformen in der Literatur heraus, bevor sie die beiden Tagebücher Frischs daraufhin untersucht.

Die Untersuchungsmethodik bleibt streckenweise leider ebenso verschwommen wie die Ergebnisse. Zwar liefert die Autorin eine Beispielanalyse eines Tagebuch-Kapitels, bleibt aber eine Begründung der Tatsache, dass sie nicht sämtliche Tagebuchkapitel in dieser Ausführlichkeit untersucht hat, schuldig. Auch systematisiert sie einerseits ihre Ergebnisse in fünf größere Komplexe und weiter in genau definierte Signalstrukturen, wägt diese aber nicht ausreichend gegen einander ab.

Dem Leser wird nach einmaliger Lektüre der gesamten Studie nicht genügend klar, welche Signalstrukturen wo und wie häufig vorkommen und wie stark sie im Verhältnis zu anderen Strukturen ihre Wirkung entfalten. So erfährt man zwar letztlich, welche Signalstrukturen des Fiktionalen es in den Frisch'schen Tagebüchern gibt und dass letztere dessenthalben als "Literarische Tagebücher" zu qualifizieren seien, auf einen einordnenden Vergleich mit anderen literarischen Tagebüchern und mit anderen Werken von Frisch - sei es auch nur in wenigen Sätzen - wartet man jedoch vergeblich.

Somit bleibt die Untersuchung von Heinrich-Korpys ein weiterer allgemeiner Beitrag zur germanistischen Fiktionalitäts- und der Tagebuchdiskussion. Wer in diesen Diskursen nicht besonders bewandert ist, hat bei der Lektüre einige Verständnisschwierigkeiten zu bewältigen, da die Arbeit zwar auf hohem wissenschaftlichen Niveau, aber gleichsam sperrig formuliert und eine auszugsweise Lektüre kaum möglich ist.

In Bezug auf die Tagebücher Max Frischs ist ein großer weiterer Schritt getan, der große Wurf jedoch ist ausgeblieben. Der bestünde tatsächlich in der vergleichenden Untersuchung der fiktionalen Signalstrukturen der Tagebücher Frischs und des noch bis 2011 gesperrten "Berliner Journals" (ebenfalls ein Tagebuch von Frisch) mit der autobiografischen Erzählung "Montauk" und einer nicht autobiografischen Erzählung des Autors sowie mit ein oder zwei anderen literarischen Tagebüchern. Eine solche Arbeit wäre freilich noch mehr als eine Doktorwürde wert.


Titelbild

Meike Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität. Signalstrukturen des literarischen Tagebuchs am Beispiel der Tagebücher von Max Frisch.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2003.
289 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3861103354
ISBN-13: 9783861103356

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