The Young & the Restless

9/11 und die Generation X: Claire Messuds verwinkelter Gesellschaftsroman "Des Kaisers Kinder"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manhattan, im März 2001: Marina Thwaite, 30, schreibt an einem Sachbuch über die kulturelle Bedeutung von Kinderkleidung in der Moderne, "Des Kaisers Kinder haben keine Kleider an". Ihr Vater Murray, als politischer Autor einer der wichtigsten Intellektuellen Amerikas, hält das Buch für postpubertären Quatsch. Ludovic Seeley, ein Publizist aus Australien, will eine neue, kritisch-satirische Wochenzeitung als intellektuelle Gegenstimme zu Murray Thwaite etablieren. Als Redakteurin umwirbt Seeley die Dokumentarfilmerin Danielle Minkoff, Marinas beste Freundin. Der schwule Literaturkritiker Julius, Danielles bester Freund, hängt sich an Marina, um gesellschaftlich aufzusteigen. Genau wie Bootie Tubb, Marinas übergewichtiger Cousin aus der Provinz: Als Privatsekretär Murrays will sich der Teenager bei den reichen Verwandten einnisten. Danielle mag Bootie. Marina nicht. Marina vertraut Ludovic. Danielle nicht. Danielle schläft mit Murray. Und Marina hat keine Ahnung.

"Freundinnen, wie sie verschiedener nicht sein könnten", "Tage, nach denen nichts mehr so sein wird, wie es war": Die Klappentexte der bislang vier Romane von Claire Messud stecken voller "ungleicher Schwestern" und "düsterer Familiengeheimnisse". Denn die größte Eigenart der Autorin - Jahrgang 1966, Mutter Kanadierin, Vater Algerier - ist es, ihre Figuren intensiv auszustellen: Man plaudert und streitet, philosophiert und urteilt und ringt miteinander. Genau wie die Kleidungsstücke aus Marina Thwaites kulturkritischem Sachbuch sind Messuds Figuren immer auch Kinder ihrer Gesellschaft, Symptome, Projektionen.

So säuselt der Klappentext zu "Des Kaisers Kinder", Messuds aktuellem Roman über die Zäsur des 11. Septembers: "Sie hätten alle Vorraussetzungen für ein erfolgreiches Leben, doch die drei Absolventen einer amerikanischen Elite-Uni [Marina, Danielle und Julius] stehen sich selbst im Weg. Ein meisterhafter Großstadtroman und eine scharf beobachtete Gesellschaftssatire über die Irrungen und Wirrungen der Gefühle." Heißt das: Dickens fürs 21. Jahrhundert, sozialkritisch, vielstimmig? Oder: verbrauchter höhere-Töchter-Schund?

Es geht um sechs Monate, sechs Hauptfiguren, kapitelweise neue Perspektiven. Auf über 500 Seiten zeichnet "Des Kaisers Kinder" die Dynamiken nach, die Marina Thwaites Leben als Nesthockerin in der Upper West Side bestimmen: Dinnerparties, Einkaufsbummel, Konzerte und Soireen, Weekends auf dem Lande, mit Proust'scher Erzählwut fügt Messud Dialogfetzen und Innenansichten aneinander, charakterisiert Figuren durch ihre Wohnungen, Geldsorgen, Komplexe, Rituale: Bootie liegt in der Badewanne und träumt davon, ein großer Philosoph zu werden. Ludovic tritt auf wie der junge Nabokov, hager und sardonisch. Marina schleicht durch die Wohnung der Eltern, das halbfertige Manuskript in ihrem alten Kinderzimmer: "Es war armselig, sich so am Rand des Lebens eines anderen Menschen herumzudrücken, wie eine Dienstmagd oder ein Hund, auch wenn es sich um ihren Vater handelte. Ein Kind mit einem Glas Milch in der Hand - sie hätte genauso gut sechs statt dreißig Jahre alt sein können."

Dringlichkeit! Verve! Leidenschaft! Claire Messud begeistert sich für ihr Ensemble, berauscht sich an der eigenen erzählerischen Phantasie. Lange bleibt unklar, welche Wege die Figuren einschlagen, wer Sympathien tragen soll, wer nicht. Und, welche Rolle der elfte September spielen wird: ein Schauerbild als letzte Szene, bloßer Nachklapp? Oder zentraler Plot Point, Wendepunkt? Claire Messud ist keine Stilistin. Keine famose Dramaturgin. Und auch ihr New York, die Mikrokosmen alter, bürgerlicher Intellektueller und ihrer matten, klugen Kinder, bleibt bloße Spiegelfläche eines Seelenpanoramas. "Des Kaisers Kinder" ist kaum mehr als eine lange, sprachlich mäßig engagierte Vorstellungsrunde von Figuren, teils spannend-dubios, teils fantastisch überspannt: Klassische Erzählprosa, raumgreifend, psychologisch. Episch. Und dabei trotzdem billig, plakativ: So müsste Täter Ludovic, der finstere Verleger aus Australien, in jeder Verfilmung alle zwei Minuten in die Kamera grinsen, die Tonspur untermalt von ominösen Paukenschlägen - ohne, dass Messud die gigantische Wut ihrer Figur je nutzt oder begründet. Opfer Danielle dagegen ("Du hast es so gut", sagt Marina ihrer Freundin, "du brauchst dir nie Gedanken machen, ob Männer dich wegen deines Aussehens oder um deiner selbst willen lieben.") schlappt schlapp durch die Häuserschluchten Manhattans, zurück "in die ohrenbetäubende Stille des Single-Lebens". 500 Seiten, ohne die Andeutung einer Emanzipation.

Am meisten schadet Julius: ein habgieriger, untreuer, emotional verflachter, selbstsüchtiger, koksender, wehleidig-waschlappiger junger Mann, bei dessen Beschreibung Messud kein Klischee auslässt. "Er war schon als Kind tuntig gewesen und in der Grundschule als Memme verspottet worden." Messuds Homophobie ist sicher nicht dem knappen Platz geschuldet: In endlosen Kapitel zählt sie Julius' charakterliche Defizite auf, reiht Szenen aneinander, in denen er sich an Kälte und Feigheit selbst unterbietet. Für erzählerische Pointen ist sich Messud auch für Rassismus nicht zu schade: Drei unvermittelte Seiten Rollenprosa aus der Perspektive von Aurora, der devot-naiven Mamsell der Thwaites, feuern Immigranten- und Hausmädchen-Klischees aus allen Rohren.

"Väter und Töchter", schreibt Danielle an einer Stelle auf eine "Ideen-Liste" in ihren Terminkalender, "Männer und Frauen. Oder vielleicht: Moral?" Viel mehr, steht zu befürchten, hat auch Messud selbst nicht notiert, bevor sie an "Des Kaisers Kinder" ging: Murray Thwaite als Patriarch und Übervater im antiquierten Freud'schen Sinne, der dicke Badewannenphilosoph Bootie als sein - ganz altmodisch dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zugewandter - Widerpart (Emerson! Musil! Dostojewski!), dazwischen die Mädels, die intrigante Tucke, und das Nabokov-Lookalike, das böse kläfft, aber nicht zuschnappt. Sie reden ein bisschen, streiten ein bisschen, psychologisieren aneinander herum. Vielleicht geht es um Werte und Autorität. Vielleicht um Sein und Schein. Oder vielleicht: Moral?

Völlig im Schatten bleibt Marinas Mutter, Murrays Ehefrau. Als Hauptverdienerin der Familie und scharfe, kluge Gastgeberin kommt sie doch in kaum einer Szene vor. Das ist insofern schade, als dass Messud mit sichtlichem Vergnügen in die Psychen aller anderen Charaktere stochert. Die eigene Altersgruppe, Frauen über 40, lässt sie schweigen. Und positiv besetzte männliche Figuren kommen gar nicht vor. Bleiben naive junge Frauen, schuftige alter Männer. Eine klischierte Personnage, die alle "Schwächen, Eitelkeiten und Sehnsüchte hinter den glänzenden Fassaden" (Klappentext) ein ungutes Stück weiter schiebt Richtung Konstrukt und Eskapismus.

Sechs Monate. Sechs Hauptfiguren. Kapitelweise neue Perspektiven. "Des Kaisers Kinder" ist ein Schmöker, der seine Figuren als Kontrastflächen und Gegenspieler nutzt, als Konkurrenten und Rivalinnen. Ein Schmöker, der ein unterhaltsames, dichtes Netz flicht. Erzählt wird dabei jedoch weniger eine klassische Romanhandlung als das melodramatische Auf und Ab von Verkettungen à la "Melrose Place" und Telenovelas: ungleiche Freundinnen. Schwestern, wie sie verschiedener nicht sein könnten; Figuren, die sich durch ihre Unterschiede definieren. Für sich allein genommen, abseits des Beziehungs-Kuddelmuddels, kann keiner dieser Charaktere selbstständig stehen. Wie Barbiepuppen kippen sie nach hinten weg.

Es geht nicht um Männer und Frauen. Es geht um Väter und Töchter. Figuren, die sich allein durch ihre Positionen zu den anderen Figuren konturieren. Und gegen Ende, wenn Messud dann jede Verbindung durchgespielt hat und man höchstens noch darauf warten kann, dass Nabokov den Punsch vergiftet, der Schwule einen Zwölfjährigen misshandelt und die Haushälterin Stress kriegt mit der Einwanderungsbehörde, stürzen noch schnell die Türme ein. "Jetzt gab es nur noch Kummer", jammert Opfer Danielle, "und so würde es bleiben, für immer." Und gäbe es eine Tonspur, Claire Messud würde auf den Gong eindreschen, lärmend, überspannt. Vulgär. "Des Kaisers Kinder" gibt sich als psychologischer Roman. Und bleibt ein Klappentext. Sechs Monate. Sechs Hauptfiguren. Wie sie erzwungener nicht sein könnten.


Titelbild

Claire Messud: Des Kaisers Kinder. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sabine Hübner.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
542 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042040

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