Suchbilder des Lebens

Zu "Solange der Haifisch schläft", dem Debütroman von Milena Agus

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Bei uns zu Hause sucht jeder etwas: Mama die Schönheit, Papa Südamerika, mein Bruder die Perfektion und die Tante einen Verlobten", heißt es zu Beginn von Milena Agus' 34 kleine Kapitel zählendem Roman "Solange der Haifisch schläft", ihrem 2005 auf italienisch erschienenen Debüt "mentre dorme il pescecance". Der Erstling der sardischen Geschichts- und Italienischlehrerin Agus erschien auf Deutsch beinahe zeitgleich mit ihrem zweiten Roman "Die Frau im Mond", der in Italien und Frankreich große Aufmerksamkeit erfahren hat.

"Solange der Haifisch schläft" ist wie "Die Frau im Mond" eine Geschichte von Suchenden. Ist "Die Frau im Mond" in erster Linie der Roman dreier Liebender, nämlich die Geschichte der Großmutter, des Großvaters und des "Reduces", so sind in "Solange der Haifisch schläft" mindestens sieben Personen die Protagonisten in der Erzählung der etwas schräg-verschrobenen, skurril-naiven und weltfremd-verschüchterten "Familie Sevilla Mendoza", deren Suchbilder die Tochter als Ich-Erzählerin festhält: "Ich schreibe Geschichten. Wenn die Welt hier mir nicht gefällt, versetze ich mich in meine eigene, und es geht mir prächtig."

Gelegenheiten hierzu findet die Schülerin jede Menge, denn sie ist einem verheirateten, überdies pervers-sadistischen Liebhaber verfallen: "Doch trotz seiner pessimistischen Sicht auf die Welt stimmt er mich nie traurig. Das ist das besondere an ihm. Ich bin in einem Zimmer mit verriegelter Tür und fühle mich, als wäre ich im Freien. Vielleicht weil ich weiß, dass er mich nicht verlassen wird, wenn ich die Anweisungen und die Regeln befolge. Und wenn ich es eines Tages schaffe, mich an den Tisch zu setzen und seine Exkremente zu essen, dann schwört er mir, daß er mich auch noch als alte Frau haben will. Für immer."

Nicht weniger flüchten sich die anderen Mitglieder der Familie Mendoza in ihre eigenen Welten. Der alltagsentwöhnte, wenn nicht -untaugliche Bruder lebt mehr oder weniger nur in seinem Zimmer in der Welt seiner Klaviermusik: "Großmutter behauptet, daß mein Bruder die schlechtesten Eigenschaften von Mama und Papa geerbt hat: nämlich die Unsicherheit der einen und die Abwesenheit des anderen."

Nicht weniger gestört ist die Mutter, die "nicht nur Angst vor gelben Wäscheklammern" hat, "sondern vor der ganzen Welt. [...] Darum verheimlichen wir ihr alles und bilden einen Filter zwischen ihr und der Welt." Sie begeht eines Tages Selbstmord. Auch der Vater, ein permanent abwesender Weltverbesserer, und die Tante reihen sich nahtlos ein in diese Familie mit zahllosen Macken und Störungen. So schreibt der Vater aus Südamerika, die biblische Geschichte Hiobs und auch Jonas auslegend: "Man müsse aus dem Bauch des Haifischs entwischen, am besten, wenn er schläft. Und dann versuchen, wirklich bis zu einem dieser Orte auf Mamas Ansichtskarten zu schwimmen".

Am ehesten noch scheinen die Großmutter wie auch Mauro de Cortes, ein Freund der Tante und des Hauses, die Verstörungen und Verletzungen der Familie Sevilla Mendoza in Grenzen halten zu können, bis schließlich mit der jungen Maria Asunción ein Mädchen als "Familienkitt" erscheint - eine Lösung, die nicht so recht überzeugen will, genauso wenig wie die Erkenntnis der Ich-Erzählerin, das Leben unbedingt positiv zu sehen, ausreichend motiviert erscheint: "Da kam mir der Gedanke, daß nichts in meinem Leben scheiße war oder ist. Verflixt noch mal. Nein, alles war schön. Und auch in Mamas Leben, nur hatte sie das nicht verstanden. Und die Tante auch nicht. Und Großmutter nicht. Und nicht mal mein Bruder oder mein Vater. [...] Also traf ich, ein winziger, unbedeutender Punkt im Universum, Vorbereitungen, mich an diesen Gottesgaben zu erfreuen, Auf der Düne angekommen, setzte ich mich hin, zog mir die Schuhe aus und betrachtete den Abhang aus weißem Sand, der mich wie eine Rutschbahn sanft ins Wasser gleiten lassen würde, in ein blaues, klares und unendliches Wasser. Gott war nicht dumm, sondern schlicht und einfach genial. Und ich begriff, daß dies der richtige Moment war, um zu fliehen, denn ich war glücklich, aber nicht über das, was geschah, sondern einfach nur, weil ich existierte. Ich erkannte, daß dies die richtige Idee war, und daß der Haifisch jetzt schlief."

"Solange der Haifisch schläft" ist ein gleichermaßen verstörender wie poetisch anrührender Roman, ein lesenswerter Erstling, dem mit der "Frau im Mond" ein ausgefeilterer Text gefolgt ist.


Titelbild

Milena Agus: Solange der Haifisch schläft. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007.
172 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783608937497

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