Lektüren aus Eis und Schnee

Andrea Dortmann legt eine kleine Tropologie der Kälte vor

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Tropen der Kälte zu handeln, weckt spontan Erwartungen, Sehnsüchte auch, die der Homonymie des Worts ,Tropen' geschuldet sind. Freilich sind in einem Buch, das als sein Thema "Traces and Tropes of the Cold" ausgibt, nicht Eskapaden in südliche Gefilde geplant, und doch nährt manch ein Geselle, der zwischen Schnee und Eis wandelt, die Fantasie von Sonne, Süden und tropischer Pflanzenwelt.

Dies enge Verhältnis von realer Kälte und verbildlichter tropischer Flora wird nirgendwo so augenscheinlich wie in dem kristallenen Niederschlag auf einer Glasscheibe, den man ,Eisblumen' heißt. Andrea Dortmann geht zwar auf das Phänomen der Eisblumen ausführlich ein, trägt jenem Bezug vom Tropus der Tropen zur kristallinen Materialität der Kälte aber nicht Rechnung.

Worum es ihr a limine geht, ist ein "commitment to close and detailed reading" der unterschiedlichsten Texte - überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum, ob wissenschaftlich oder belletristisch - wobei sie ihr Vorgehen als "strictly inductive" ausweist. Wenn man irgendwo nach einem methodischen Anhaltspunkt suchte, dann wäre der am ehesten noch in manchen Äußerungen Adornos in der "Ästhetischen Theorie" zu finden. Mit einer vorrangig literatursoziologischen oder gesellschaftskritischen Betrachtungsweise hat Dortmann allerdings nichts zu schaffen. Adornos Rede von Kunstwerken als Bildern der "Dauer des Vergänglichen", von ihrem Gehalt "in ihrer eigenen Vergänglichkeit" nutzt Dortmann als Möglichkeit eines Vergleichs mit dem naturgemäß ans Momentane gebundenen, stets von der Schmelze bedrohten Niederschlag aus Eis und Schnee. Die Relation der fragilen Materialität von Schnee- und Eisfigurationen, wie sie in Texten vorkommen, und ihrer Manifestation in der Sprache gibt den Anlass für das Interesse, dem Dortmann in ihrer Studie Folge leistet. "The selection of material was hence guided by the question of how each text plays out the affinity between the delicate literary object and the fragile status of language and readability."

Erfreulich bei der Textauswahl ist, dass neben prominenten Beispielen wie Thomas Manns "Der Zauberberg" oder Stifters Bericht "Aus dem Bayrischen Walde" auch weniger bekannte, zum Teil in Vergessenheit geratene Texte Berücksichtigung finden, etwa Felix Brauns kleiner Essay über "Die Eisblume" (1928) oder Georg Hermanns Roman "Schnee" (1921). Im Übrigen bezieht Dortmanns Textverständnis das ,Lesen' unter dem Mikroskop und von Fotografien in ihre Untersuchung mit ein.

So ist bei der Analyse von Wilson A. Bentleys fotomikrografischen Schnee-Bildern - aufgenommen zwischen 1885 und 1931 - die Rede von einer "wordless narrative, telling a story of teleological progression". Dass Dortmann ihr Material in Einzelkapiteln über Eisblumen, Schneeflocken, Schneefall und den Zustand des Eingeschneit- und Vereistseins anordnet, ist in sich schlüssig und einer rein kulturgeschichtlichen Vorgehensweise vorzuziehen. Daher auch die berechtige Kritik an Helmut Lethen, der in "Lob der Kälte" (1987) meinte, eine zunehmend positive Bewertung der Kälte-Figurationen während der historischen Avantgarde-Bewegungen ausmachen zu können.

Die Schnee-Texte Robert Walsers, Thomas Manns, Franz Kafkas und Hermanns, die Dortmann untersucht, "can neither be subsumed under the crisis discourse of universal glacialisation, nor do they transform the negatively Ice Age topos into an unambiguously affirmative image." Schade nur, dass die Autorin Textbeispiele der jüngst vergangenen und zeitgenössischen Literatur bei ihren Betrachtungen gänzlich außer Acht lässt. Gerhard Roths "Winterreise" (1978) findet ebenso wenig Erwähnung wie Sten Nadolnys "Die Entdeckung der Langsamkeit" (1983) oder Klaus Böldls "Studie in Kristallbildung" (1993). Zuletzt sei noch der Hinweis auf eine textimmanente Ironie bei dieser textimmanenten Lektüre angebracht. Da die Analyse so sehr auf die Analogie von Schneeflocken und Lettern auf weißem Papier bedacht ist, hat sich - getreu dem Effekt der Metapher vom weißen Laken, das der Schnee über die Landschaft ausbreitet - eine der Seiten des Buches selber als weiße gegeben; da reißt der Text ab, als ob die Lettern unter Schnee begraben wären.


Titelbild

Andrea Dortmann: Winter Facets. Traces and Tropes of the Cold.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
228 Seiten, 51,00 EUR.
ISBN-13: 9783039105403

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