Brillante Textanalysen

Axel Dunkers "Kontrapunktische Lektüren" folgen hermeneutischen Tugenden

Von Michael HofmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Hofmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neuere Perspektiven zur Erforschung der deutschen Literatur des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts ergeben sich aus Fragestellungen, die gegenwärtigen, "postkolonialen" Erfahrungen entnommen sind. Wie haben sich europäische Aufklärung und europäische Modernisierung selbst definiert in Auseinandersetzung und Abgrenzung mit dem außereuropäischen "Anderen"? Wie sind ideologische Konzepte und Machtstrukturen in den philosophischen, wissenschaftlichen und literarischen Diskursen der Blütezeiten deutscher und europäischer Kulturen miteinander verbunden?

Und: welche Rolle spielt das grundlegende Phänomen des Kolonialismus in diesen Selbstdefinitionen und in den Begegnungen mit dem Fremden, die zur Bestimmung des Eigenen beigetragen haben? Der palästinensisch-amerikanische Komparatist Edward Said hat mit seiner einflussreichen Studie "Orientalism" die These aufgestellt, dass die europäischen Diskurse des achtzehnten, vor allem aber des neunzehnten Jahrhunderts ohne den kolonialistischen Bezug nicht zu denken sind. Zweierlei wurde an Saids Position mit Recht kritisiert: Einerseits besteht die Gefahr, dass die ideologiekritische Verve seines Ansatzes undifferenziert Eigenarten literarischer Diskurse ignoriert und damit den kritischen Impulsen von Literatur und Kunst nicht gerecht wird. Andererseits ist eine undifferenzierte Gleichsetzung aller europäischer Nationen und ihres Schrifttums im Konzept des europäischen Blicks problematisch. Im Hinblick auf den ersten Einwand ist zu erkennen, dass Said in seiner Studie "Culture and Imperialism" ein differenzierteres Konzept von Textanalysen vorgelegt hat, welches die Ambivalenzen der europäischen Wahrnehmungsmuster aufzunehmen vermag, und mit dem Modell der "kontrapunktischen Lektüre" im Sinne von Benjamins Lesen "gegen den Strich" ein Widerstandspotential der Literatur erfasst hat, das die schematische Kritik am europäischen Diskurs überwindet. Im Hinblick auf den Bereich der deutschen Literatur hatte Said sich in "Orientalism" vorsichtig geäußert, weil zumindest bis zirka 1870 von deutschem Kolonialismus nicht unmittelbar die Rede sein kann und insofern die Vermutung nahe lag, dass sich die deutschen Diskurse von denen der Kolonialmächte wenn nicht grundsätzlich, so doch zumindest graduell unterscheiden würden. Die Berliner Germanistin Andrea Polaschegg hat mit ihrer Studie "Der andere Orientalismus" (2005) überzeugend dargelegt, dass sich der deutschsprachige Diskurs der Goethezeit und der Romantik nicht auf kolonialistische Denkmuster im Sinne von Saids "Orientalism" reduzieren lässt.

Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Forschungsdiskussion erscheint die Erforschung der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts im Hinblick auf die Wirkmächtigkeit kolonialer Denkmuster als ein Desiderat, das eine umfassende Fülle von Einzelstudien, aber auch Überblicksdarstellungen erforderlich machen wird. Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung wird mit solchen Forschungen aus einer Provinzialität erlöst, die sie in den Augen vieler mit ihren Gegenständen zu teilen scheint; sie wird deutlich machen können, dass der deutsche (und etwa auch schweizer) Provinzialismus, der die Verhältnisse des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnet, sehr wohl an globale Strukturen und Perspektiven angebunden war.

Axel Dunkers Studie "Kontrapunktische Lektüren" ist in den skizzierten Kontext einzuordnen, und sie erfüllt in mustergültiger Manier die erwähnten Anforderungen an Einzelstudien und Überblicksdarstellungen, indem sie deutschsprachige Texte vom späten achtzehnten Jahrhundert bis zum späten neunzehnten Jahrhundert - von Wieland bis Fontane - in exemplarischer Form untersucht und deren Bezug zum kolonialen Diskurs und zum kolonialen Denken analysiert. Der Autor ist in dem Forschungsgebiet bereits einschlägig ausgewiesen, er hat neben Einzelstudien bereits einen Sammelband mit dem programmatischen Titel "(Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kunsttheorie" (2005) herausgegeben. Sein Konzept der "kontrapunktischen Lektüren" definiert Dunker im Anschluss an Said als eine Analyse der Spuren und der kritischen Reflexion kolonialen Denkens in den Texten deutscher Autoren von der Spätaufklärung bis zum Realismus.

Dabei werden natürlich vor allem Texte herangezogen, die koloniale Begegnungen thematisch inszenieren (wie etwa Heinrich von Kleists einschlägige Erzählung "Die Verlobung von Sankt Domingo"). Dunker betont aber, dass es darum gehe, vor allem auch formale Strukturen zu untersuchen, um implizite Stellungnahmen der Texte (und nicht primär der Autoren) im Hinblick auf die Begegnung mit dem kolonial Fremden zu entschlüsseln. Hervorzuheben ist, dass die postkoloniale Theoriebildung keineswegs eine Vernachlässigung intensiver Arbeit mit den Texten bedeutet. Vielmehr ist hervorzuheben, dass Dunker mustergültige hermeneutische Tugenden beweist, indem genaue textnahe Interpretationen am Leitfaden der skizzierten Fragestellungen durchgeführt werden. Im Sinne der Kritik am Schematismus einer einsinnigen Ideologiekritik im Sinne mancher Passagen von "Orientalism" geht es in den Analysen des Buches nicht darum, die Texte der Tradition zu denunzieren. Vielmehr gelingt es Dunker, deren Ambivalenz sehr klar und deutlich herauszuarbeiten.

Die deutsche Literatur (vor allem) des neunzehnten Jahrhunderts - so zeigt sich - war mehr oder weniger unterschwellig mit einer Selbstdefinition des Europäischen und mit einer Herausforderung durch das außereuropäisch Fremde konfrontiert - und sie reagierte auf diese Herausforderung sehr differenziert, wenn auch nicht immer "politisch korrekt" im Sinne unseres heutigen postkolonialen Bewusstseins. Im Hinblick auf die wichtige Figur der "fremden Frau" im außereuropäischen Erfahrungsraum konstatiert Dunker etwa eine grundlegende Ambivalenz von Angst und Begierde, und diese Doppelbödigkeit charakterisiert insgesamt die Auseinandersetzung mit dem kolonial Fremden in den analysierten Texten. Dunker verweist aber in sehr überzeugender Weise darauf, dass große Literatur - und manchmal auch "mittelgroße" - sehr wohl zu einer kritischen Reflexion schablonenhafter und machtgestützter Denkmuster und Diskurse in der Lage ist.

Die vorliegende Abhandlung bietet innovative Impulse zu einer zeitgemäßen Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Sie zeichnet sich durch einen kohärenten theoretischen Ansatz und insbesondere durch subtile und brillante Textanalysen aus. Sie kann den Leserinnen und Lesern der deutschen Literatur einen neuen Blick auf bekannte Texte vermitteln und die Literaturwissenschaft zu innovativen Forschungen anregen.


Titelbild

Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
193 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783770544974

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