Requiem für Überlebende

A. F. Th. van der Heijdens Roman "Das Gefahrendreieck"

Von Stefan WieczorekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Wieczorek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der niederländische Schriftsteller Adrianus Franciscus Thedorus - kurz A. F. Th. - van der Heijden wird gemeinhin nicht salopp als Autor von Romanen bezeichnet. Sein Name steht vielmehr synonym mit dem von ihm geschaffenen Zyklus "Die zahnlose Zeit". Auf Niederländisch sind bislang vier Bücher in fünf Einzelbänden sowie ein Prolog und ein Intermezzo erschienen, zusammen mehr als 2500 Seiten. Bei Suhrkamp liegen davon mittlerweile drei Bände und das Intermezzo vor, den Verlagsankündigungen zufolge soll der gesamte Zyklus auf Deutsch erscheinen.

Diesem intensiven verlegerischen Bemühen entspricht das Votum der deutschsprachigen literarischen Kritik. Van der Heijden ist einer der wenigen Autoren der Gegenwartsliteratur, dem vielstimmig literarische Dauer, ja kolossale Höhe bescheinigt wird.

Kürzlich ist "Das Gefahrendreieck", in der Chronologie das zweite Buch erschienen. Sein Inhalt ist rasch skizziert: Albert Egberts, Anti-Held und Visionär der "Zahnlosen Zeit", studiert Mitte der siebziger Jahre in Nimwegen Philosophie. In der Provinz, im Haus seiner Eltern, will er sich auf die Zwischenprüfung vorbereiten. Essentielle Fragen werden ihn dort tatsächlich beschäftigen, doch viel weniger abstrakte als er wahrscheinlich dachte: Beim Ausführen des elterlichen Hundes muss er feststellen, dass das Viertel, in dem er seine Kindheit verbracht hat, das titelgebende "Gefahrendreieck", verschwunden ist. (Gefahrendreieck, da das Viertel von drei Verkehrsachsen umrissen wurde). Gleichsam als Gegenbewegung zu diesem Auslöschen wird - nun in veränderter Erzählperspektive - die Kindheit Alberst im Gefahrendreieck vergegenwärtigt: "Autos hatte er noch nie in ihrer kleinen Straße gesehen. Bäcker, Milchmann, Gemüsehändler - sie alle brachten täglich ihre Waren mit Pferd und Wagen [...]. Plattgetretene und breitgewälzte Pferdeäpfel sorgten für eine feste Asphaltierung des Kopfsteinpflasters." Hier, wo das Abpumpen der Jauche oder das illegale Schlachten eines Schweins zum Ereignis werden, lernen sich die Kinder Albert, Thjum und Flix kennen, deren Lebensweg zum Gegenstand der "Zahnlosen Zeit" werden wird. In ihrer Entdeckung der Welt formulieren die Jungen die Leitmotive, die sie auch zwanzig Jahre später noch bewegen - oder für die "Zahnlose Zeit" besser: zum Stillstand verurteilen. So verwirklicht Flix sadistische Experimentierreihen. Das Gefahrendreieck ist ein Ort der Gewalt. Alberts Vater verbringt die Wochenenden im Suff. Albert lebt in permanenter Angst vor diesem Vater, der die Wohnungseinrichtung kurz und klein schlägt und auch schon mal das Messer gegen die eigene Familie zückt. Jahre später wird Albert in diesem Vater sich selbst sehen, denn was hier als Anfang von Alberts Geschichte erzählt wird, wird quasi zum Hervorbringungsprinzip für Alberts Lebenstristesse.

Zu Beginn des Romans beobachtet Albert einen Fisch, der seine Bahnen immer präzis bis zur Mitte eines Beckens zieht und dann kehrt macht. Vormals gab es genau dort eine Trennwand, auf deren anderer Seite ebenfalls ein Fisch schwamm. Nachdem dieser verendet war, wurde die Trennwand entfernt. "War es aus Achtung oder Ehrfurcht vor dem Toten, dass er die ererbte Hälfte nicht in Besitz nahm? [...] Er schwamm sofort zur Mitte des Aquariums, tippte mit der Nase an die verschwundene Glasplatte, als wäre sie noch da, zeigte die normale Schreckreaktion und machte rechtsumkehrt." Thjum bilanziert: "Die Trennwand existiert noch. In ihm. Dieser Fisch ist zu seiner eigenen Vergangenheit geworden. So schleppt ein entlassener Gefangener seine Zelle auf dem Rücken mit sich". Das "Gefahrendreieck" ist ein Requiem für Überlebende, die noch nicht wissen, dass die verinnerlichten Verletzungen letztendlich eine Krankheit zum Tode sind.

Die Vergangenheit hat die Akteure und ihre Versuche, zum Autor der eigenen Biographie zu werden, fest im Griff. Van der Heijdens Roman wird dabei aber nie zu einem Sozio- oder Psychogramm, das man allenfalls mit intellektuellem Interesse lesen würde. "Die zahnlose Zeit" ist ein besonderer Zyklus, weil er einen plötzlich etwas angeht: Weil Albert, Thjum und Flix - grotesk oder auch tragisch - sich von dieser Vergangenheit nicht unterkriegen lassen wollen. Daher endet dieser Band auch nicht mit Alberts Kinder- und Jugendjahren sondern führt hinüber zu seiner Studentenzeit, die erst einmal damit beginnt, durch (reichliche) sexuelle Praxis die eigene Impotenz zu überwinden.

Helga van Beuningen hat den Roman souverän und eloquent übersetzt. Da manches in Alberts Erinnerung zugleich an eine Spracherinnerung gekoppelt ist, insbesondere aus seiner Kinderzeit, stellt sich der Übersetzung das Problem, Umgangssprachliches und Dialektwörter übertragen zu müssen. Hinzu kommt, dass von manchen dieser Begriffe durch Lautähnlichkeit ganze Wortfelder abgeleitet werden. Eine Übersetzung steht dann immer vor einem Dilemma. Helga van Beuningen hat hier Kompromisse gefunden.

Nicht die Handlung, sondern Bilder konstituieren den Roman. Van der Heijden ist ein visueller, sensueller Erzähler. Was der Erzähler im Roman von Albert weiß, sind die Bilder, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt haben. Alles, was aus Alberts Kindheit erzählt wird, gerinnt gleichzeitig zur Allegorie: "Unerwartet zog Flix einen zusammengeknüllten Rotzlappen hervor und warf ihn mit derselben Kraft in die Luft, mit der er eine Scheibe einwerfen würde [...]. Da geschah das Wunder. Hoch über ihren Köpfen fiel eine große Mutter heraus, die mit Bindfäden an den vier Zipfeln des Taschentuchs befestigt war. Flixens Rotzlappen klappte sich bauschend auf, und am Abendhimmel hing für einen Moment reglos ein Minifallschirm, der danach auf einer schrägen Bahn majestätisch abwärts zu schweben begann. So fand Flixens rohe Gebärde ihre Vollendung in einer äußerst zarten, fragilen Bewegung. Wieder hatte er mit einfachen Mitteln ein Selbstporträt angefertigt."

Die Erzählung entsteht erst in der Folge dieser Bilder, die oft sogar als variierte Serie entworfen werden. Es ist das Verstreichen der Zeit, das Albert vorantreibt, die Bilder ordnet. Van der Heijden ist ein außergewöhnlicher Erzähler, weil er aus der punktuellen Dynamik des Bildes Episches schafft. Damit hat Van der Heijden eine ganz altmodische Qualität: Bilder zu schaffen, die nicht nur Funktion oder Emotion sind, sondern Bedeutung.
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Titelbild

Adrianus Fr. Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck. Roman. Aus d. Niederländ. v. Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
530 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3518411357

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