Obssesion statt Liebe

Care Santos über Beziehungen in Barcelona

Von Sabine KaldemorgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Kaldemorgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eines frühen Morgens begriff ich, dass mein ganzes Leben in den Versen eines Tangos enthalten war." Mit dieser Erkenntnis des Hafenarbeiters Gaspar Montesinos beginnt die spanische Autorin Care Santos ihren Roman "Alondra tanzt den Tango". Herzschmerz, Sehnsucht, Verlust, die Sujets der Tangosänger durchziehen das Leben des schüchternen Helden. Das klingt nach Tragik, aber der Leser wird nicht zum voyeuristischen Zeugen romantischer Gefühle und überbordender Leidenschaften. Ort des Geschehens ist Barcelona, das Personeninventar ist spärlich.

Gaspar und seine Bezugspersonen, der Varietéstar Alondra, die Prostituierte Rosario sowie die tugendhafte Lola, bewegen sich vor dem geschichtlichen Hintergrund der Zeit von 1910 bis 1935. Care Santos stieß bei Recherchen zum Revuetheater der "wilden Zwanziger", ihrem Steckenpferd, auf das reale Pendant der Alondra. "Es war naheliegend, eine Biographie zu schreiben, aber die Möglichkeiten eines Romans erschienen mir interessanter", so die Dreißigjährige auf einer Lesung in Berlin. Care Santos hat bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht und schreibt für die Tageszeitung "El Mundo". Für sie gilt damit das gleiche Phänomen wie für Javier Marías, Antonio Muñoz Molina oder Arturo Pérez-Reverte: Die Trennung zwischen Schriftsteller und Journalist ist bei der neueren spanischen Literatur aufgehoben.

Das Einfangen der Atmosphäre im Vergnügungsviertel, der Doppelmoral im Arbeitermilieu, der Existenzängste in der Künstlerszene gehören zu den Stärken des Romans. Wer in "Alondra tanzt den Tango" ein schillerndes Panorama kulturellen Lebens erwartet, wird enttäuscht. Die Geschichte ist eine Montage zweier Erzählperspektiven. Gaspar und Angelina, die Adoptivtocher Alondras, gehen selten über ihren persönlichen Mikrokosmos hinaus. Ereignisse wie der Marokkofeldzugs Spaniens, Neuheiten wie die Verbreitung des Kinos oder des Tangos treiben weder die Handlung voran noch haben sie Einfluss auf die Charaktere. Sie bleiben am Rande erwähnte Einsprengsel, die eher zur zeitlichen Orientierung des Lesers dienen.

Die drei Frauen leben in unsichtbaren Welten, deren gemeinsamer Schnittpunkt einzig die Figur Gaspars ist. Er heiratet auf Druck der Eltern die vorbildliche Lola, obwohl sie für ihn das hässliche Entlein verkörpert, eine Langweilerin ohne Liebreiz. Mit der verständnisvollen, stets heiteren Rosario verbindet ihn eine platonische Freundschaft. Die Gedanken Gaspars kreisen jedoch um die Tänzerin Alondra, die im Roman kaum in Erscheinung tritt. Fasziniert verfolgt er aus der Ferne ihren Aufstieg von der pubertären Attraktion einer schmutzigen Rotlichtbar zum geheimnisumwitterten Star. Er sieht seine Stunde gekommen, als sich Alondra - auf dem Gipfel ihrer Karriere - zurückzieht. Weniger das Rätsel um ihre plötzliche Menschenscheu steht im Vordergrund, sondern eher die Frage: finden Alondra und Gaspar zueinander oder nicht? Gaspar entwickelt sich vom Anti-Don Juan zum aufopfernden Sonderling und kommt seiner Angebeteten unter widrigen Umständen näher. Obwohl der Roman mit der Figurenkonstellation, den Schauplätzen und dem Zeitrahmen alle Ingredenzien für Spannung und emotionale Abgründe aufweist, bleibt er an der Oberfläche. Zwischen den Figuren herrscht eine unüberbrückbare Distanz, und damit auch zum Leser.

Titelbild

Care Santos: Alondra tanzt den Tango. Aus d. Span. v. Michaela Meßner.
Kindler Verlag, München 2000.
394 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3463403676

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