Verführung zum Genie

Thomas Manns "Doktor Faustus" als Hörspiel

Von Sandra RührRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Rühr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Doktor Faustus" treibt ein Spiel par excellence mit den Bedeutungsebenen. Vordergründig - wie der Untertitel "Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde" vermuten ließe - handelt es sich um Lebenserinnerungen aus der Feder eines Freundes. Und so erzählt denn auch der Jugendfreund Serenus Zeitblom die Lebensphasen Adrians nach.

Allerdings, und hier kommt die nächste Ebene ins Spiel, verquicken sich beim Notieren der Lebenserinnerungen die Zeitebenen. So beginnt der Chronist Zeitblom zeitgleich mit den Notizen wie der Autor Mann, nämlich am 23. Mai 1943. Während Zeitblom nach zwei Jahren die Feder niederlegt, vollendet Mann sein Werk im Februar 1947. Im Roman wird explizit auf die Verschränkung der Zeitläufe hingewiesen, indem von drei Ebenen die Rede ist: Von der des Lesers, der historischen wie der chronistischen. Somit ist der zeitgeschichtliche Bezug und damit die Thematisierung des Nationalsozialismus immer präsent: Einmal sehr offensichtlich in den Äußerungen Zeitbloms, wenn dieser beispielsweise davon spricht, dass es "aus sei mit Deutschland". Dann eher zwischen den Zeilen, wenn der Teufel auftritt. Wer ist der Teufel? Hitler? Die Verkörperung des Nationalsozialismus? Oder die Umstände, die damit verbunden sind?

In der Hörbuchinszenierung kommt nun eine vierte Ebene zu den drei bereits beschriebenen ins Spiel: Die des Hörers nämlich. Die akustische Interpretation ermöglicht einen anderen Zugang zum Werk und bietet zugleich die Möglichkeit der Wieder- oder Neuentdeckung.

Der Titel "Doktor Faustus" macht deutlich, dass man es mit einer Variation des Faust-Motivs zu tun hat. Wozu nun verführt der Teufel den Protagonisten Leverkühn und kommt er wie bei Goethes "Faust" am Ende noch einmal glimpflich davon? Nein, denn Leverkühn verkauft im wahrsten Sinne des Wortes seine Seele.

Weiterhin finden sich persönliche Bezüge zu Mann: Ines und Clarissa Rodde verkörpern Manns Schwestern Julia und Clara, Rudi Schwerdtfeger die homoerotisch geprägte Beziehung zu Paul Ehrenberg. Die Nietzsche-Lektüre gibt das Datengerüst des Romans vor und das politische Erleben schildert der Erzähler Zeitblom.

Auch die Zerrissenheit von Künstler und Bürger zeigt der Autor an der Figur Clarissa Rodde: Das Bürgerliche in Form der Ehe lässt sich mit dem Künstlerischen, dem Schauspielerdasein, nicht vereinbaren. Stattdessen wird Clarissa in den Selbstmord getrieben. Aus dieser Unvereinbarkeit heraus ergibt sich die Figurenkonstellation zwichen Adrian Leverkühn und Serenus Zeitblom: Der Komponist und der verheiratete Gymnasiallehrer. Zusammen bilden sie einen Idealtypus Manns. Und so erklärt sich auch, weshalb der Erzähler alles so detailgetreu wiedergeben kann: Weil er vieles zwar nicht selbst erlebt, aber doch intim empfunden hat.

Adrian Leverkühn kommt schon von frühester Kindheit an mit Musik in Berührung: Die Mutter ist musikalisch, mit den Geschwistern erprobt er das Kanonsingen, sein Onkel ist Händler für Musikinstrumente und Wendell Kretzschmar führt ihn in das Klavierspielen und die Kompositionslehre ein. Gleichzeitig ist er höchst intelligent, sodass ihm sein Hauslehrer bereits im Alter von acht Jahren bescheinigt, ihm nichts mehr beibringen zu können.

Erst nach vier Semestern Theologiestudium in Halle studiert er Musik in Leipzig. Dort macht er die Bekanntschaft mit der Prostituierten Esmeralda. Obwohl diese ihn warnt, steckt er sich bei ihr mit Syphilis an. Leverkühn heckt einen kühnen Plan aus: Er glaubt, sein Streben nach Genialität nur in der Krankheit finden zu können. Dies und eine bestimmte Tonfolge, die er in seine frühen Kompositionen einbaut, rufen den Teufel auf den Plan.

Dieser zeigt sich ihm - ob tatsächlich oder eingebildet, bleibt unklar - während eines Italienaufenthalts und schließt mit ihm einen Pakt: 24 Jahre künstlerisches Schaffen auf dem genialischen Höhepunkt unter gänzlichem Verzicht auf wärmende Liebe. Die Forderung des Teufels "Dein Leben soll kalt sein - darum darfst du keinen Menschen lieben!" wird sich erfüllen: Als Leverkühn seine Liebe zu Marie Godeau erkennt und seinen Freund Schwerdtfeger bittet, ihr in seinem Namen einen Antrag zu machen, schlägt die Angebetene das Angebot aus. Der Brautwerber Schwerdtfeger - der selbst Gefühle für Marie empfindet - findet allerdings den Tod, als ihn seine einstige Geliebte Ines Institoris in der Straßenbahn erschießt. Und auch seinen Neffen Nepomuk darf Leverkühn nicht lieben, denn gerade als seine Gefühle zu stark werden, stirbt der Junge an einer Hirnhautentzündung.

Als Leverkühns Frist nach 24 Jahren abgelaufen ist, hat er sein größtes Werk "Doktor Fausti Weheklag" vollendet. Er lädt Gäste zu sich, um vor ihnen eine Kostprobe und zugleich eine Lebensbeichte abzugeben. Halten die Gäste seine Rede zunächst noch für schön und ästhetisch, reagieren sie auf seine Mordgeständnisse zunehmend verstört. Als Leverkühn schließlich zusammenbricht, empfindet der Großteil nur Verachtung für ihn. Seine letzten zehn Lebensjahre verbringt er im Delirium in der Obhut seiner Mutter.

Der Untertitel und die Vorrede zum Hörspiel geben eigentlich die Art der Inszenierung bereits vor: Die Lesung, die den Freund sich erinnernd zurückblicken lässt. Und doch wurde hier das Hörspiel als Interpretation gewählt. Es gibt also den Chronisten Zeitblom und eine Vielzahl anderer Stimmen, die die indirekte Rede der Vorlage auflösen und dem Zuhörer einen akustischen Eindruck von der jeweiligen Person vermitteln. Gleichzeitig wird so eine Orientierungshilfe für den Hörer geleistet. Die Hörspielinszenierung wird aber nicht zu einem Klang-Allerlei. Vielmehr ist - ähnlich wie bereits bei der Hörspielumsetzung der "Buddenbrooks" aus dem Jahr 1965 - ein Spiel mit den Stimmen zu vernehmen. Diese Stimmen dienen dazu, den Wahrheitsgehalt des von Zeitblom Gesagten zu belegen. Auch die Geräusche sollen dem Gehörten eine gewisse Färbung geben, ohne es allerdings zu übertünchen. So wird nicht alles klanglich unterlegt, sondern nur dann, wenn es nötig scheint, ein Geräusch skizzenhaft eingesetzt.

Ein Thema, das im Roman eine entscheidende Rolle spielt, ist die Musik. Diese kann im Hörspiel ideal umgesetzt werden - und so ist auch Musik das Erste, was der Hörer vernimmt. Der Funktion, die ihr im Roman zuerkannt wird - nämlich nichts und alles zugleich sagen zu können - wird sie ausgezeichnet gerecht. Oft hat die Musik gewissermaßen das letzte Wort, sie hallt nach und keimt mehrmals auf, wenn die Stimmen längst verstummt sind und lässt dann im Hörer Zweifel darüber aufkommen, ob er dem eben Gehörten ganz trauen kann. Adrian Leverkühn plante eine Lied-Ton-Komposition, man könnte meinen, dass sie hier, in Form dieses Hörspiels, realisiert wurde. Allerdings darf nicht angenommen werden, dass die Musik die kühnen Vorstellungen Leverkühns, die klingenden Zwölftonreihen, übersetzt, hier würde sie scheitern. Vielmehr muss hier der Hörer aktiv werden und seine Vorstellungskraft bemühen. Das, was in den musiktheoretischen Gesprächen diskutiert wird, ist im Hintergrund als eine mögliche Interpretation zu vernehmen. Zusätzlich schafft die Musik eine leitmotivische Struktur, die dem Zuhörer Orientierungshilfen gibt.

Die insgesamt 52 Sprecher lassen sich hier nur unzureichend würdigen.

Hanns Zischler als Verkörperung des Erzählers und Biografen muss sich in seiner Rolle und somit auch stimmlich zurücknehmen. So erst kann die Hauptfigur Adrian Leverkühn lebendig werden. Die Figur des Zeitblom ist sich ihres Temperaments bewusst: "Ich bin eine durchaus gemäßigte - und ich darf wohl sagen - gesunde, human temperierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur. Ein Gelehrter und Conjuratus des lateinischen Heeres nicht ohne Beziehung zu den schönen Künsten - ich spiele die Viola d'Amore - aber ein Musensohn im akademischen Sinn des Wortes, welcher sich gerne als Nachfahre der deutschen Humanisten betrachtet." Auch Zischler gilt als Gelehrter unter den Schauspielern: Neben der Schauspielerei arbeitete er als Übersetzer, schrieb Hörspiele und veröffentlichte Publikationen wie "Kafka geht ins Kino". Seine "gewisse Distinguiertheit als auch ironische Zurückhaltung" veranlassten die Produzenten dazu, in Zischler die "perfekte Verkörperung eines Thomas-Mann-Erzählers" zu sehen. Seine mitteltiefe Stimmlage, sein gemäßigtes Sprechtempo und seine deutlichen Akzentuierungen, die die komplexen Satzkonstruktionen Thomas Manns aufschlüsseln, rechtfertigen diese Wahl. Gleichzeitig bleibt immer ein letzter Zweifel über die Funktion des Erzählers erhalten, die dieser durch den Einschub seiner Gedanken bedient. Durch das Element der Stereophonie und ein Zurücknehmen der Lautstärke erfährt der Hörer das zwischen den Zeilen Stehende.

Werner Wölbern hat die schwierige Aufgabe, die Kälte der Figur Leverkühn zu vermitteln und ihn, der sich erst aus der Einbettung in das Figuren-Allerlei erschließt, zu verlebendigen. Wölbern nahm die Herausforderung an. Er erkannte beim Einsprechen für das Hörbuch die Möglichkeit, "Dinge zu fokussieren, zu kanalisieren". Und so verleiht er der Figur Leverkühn durch seine Stimme eine spezifische Färbung: Höher als die des Erzählers und leicht knarrend wirkt er - stets säuselnd - als wollte er, der Verführte, andere verführen. Gleichzeitig bekommt seine Stimme so etwas Klirrendes, was beim Hören einen Schauder der Kälte verursacht. Und doch ringt man am Ende mit ihm, so wie er nach Worten sucht und wünscht ihm, dass er, dessen Stundenglas abgelaufen ist, dennoch in Gnade und Nachsicht ruhen möge.

Auch die Verpackung des Hörbuchs verdient eine besondere Würdigung. Teuflisch wirken die Farben Rot und Schwarz, die auf dem Pappschuber, dem Digipack und den zehn CDs zu sehen sind. Die Verpackung mutet wie ein Buch an: Man schlägt es auf und "blättert" - entweder im 64-seitigen Booklet mit Hintergrundinformationen zum Roman und zur Entstehungsgeschichte des Hörspiels oder in den durchsichtigen Klappelementen mit den CDs.


Titelbild

Thomas Mann: Doktor Faustus. 10 CD.
Der Hörverlag, München 2007.
744 min, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783867170758

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