Der Schlaf der Vernunft

Jo Nesbø glaubt nicht an das Gute im Menschen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ursache allen Bösen ist die Gewalt, und der Sex ist mit ihr all zu sehr verwandt, wodurch am Ende auch wieder nur soviel Leid erzeugt wird, wie nötig ist, um neue Gewalt zu zeugen. Auf der anderen Seite hat die Gewalt selbst wieder einen heilenden und kathartischen, säubernden Aspekt, mit dem das zwischenmenschliche Gewalt-Saldo ausgeglichen werden kann - zumindest angeblich. Damit dies einigermaßen durchgeht muss das Ganze mit religiösem Schmuckwerk versehen werden, wobei es anscheinend niemanden interessiert, was aus allem werden kann, wenn keiner mehr hinsieht und darauf achtet, dass nichts aus dem Ruder läuft.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Monstren, und die Rache- und Gewaltfantasien, die neben dem Gerechtigkeits- und Wahrheitsfanatismus den Kriminalroman allzu häufig bestimmen, gehören nun mal in die Tiefschlafphase der Vernunft. Ein Ende der Gewalt wird es nie geben - wird sie einmal zugelassen, ist sie kaum mehr einzufangen.

Was also soll man davon halten, wenn am Ende dieses Romans von Jo Nesbø ein gesichtsloser Mörder seinen Auftraggeber und sein Opfer niederschießt und mit Billigung des Polizisten Harry Hole entfliehen darf? Was ist von einem Ermittler zu halten, der die Rache über das Recht stellt? Der die Lektion, die ihm sein alter Freund und Vorgesetzter Bjarne Møller erteilt, nicht lernen will? Was unterscheidet ihn noch von seinem Erzfeind Waaler, der das Falsche tut, obwohl er anfangs das Richtige tun wollte? Nichts, außer dass er immer wieder mit dem Trinken beginnt. Als Hole noch gegen Waaler und seine Alkoholsucht kämpfen musste, war er sympathischer. Jetzt ist er nur ein weiterer Fanatiker, der glaubt, klüger und gerechter zu sein als das Rechtssystem. Denn das ist immer feige und schwach, es sieht nie nur das Opfer, sondern ist so unverschämt, auch dem Täter - wer immer es auch sei und welche Untaten er auch immer verübt hat - Rechte zuzubilligen. Dies ist der Moment, in dem der Opferschutz besonders massiv ins Feld geführt wird.

Rächer gibt es zahlreiche in der Kriminalliteratur, für die das Recht sich auf das Prinzip Vergeltung, Auge um Auge, Zahn um Zahn, reduzieren lässt. Hole wird zu einem solchen Rächer, und es fragt sich, ob das nicht anzeigt, wie sehr unsere zivilisierten Gesellschaften aus Langeweile oder aus anderen Gründen mit dem Feuer zu spielen bereit sind. Die Beziehungen, die Nesbø selbst zum Balkankrieg herstellt, sollten Warnung genug sein - Warnung vor einer gesellschaftlichen Situation, in der der Staat und seine Repräsentanten nur noch ein Gewaltfaktor unter anderen ist und nicht mehr der Garant für den zivilisierten Umgang seiner Bürger miteinander. Aber anscheinend ist das mittlerweile nicht mehr legitim, vielleicht auch nicht mehr reizvoll genug.

Nesbøs Roman geht jedenfalls zwiespältig vor: Am Anfang steht eine Vergewaltigung, der andere folgen, es stehen die Kriegsgräuel zu Beginn, die einen Mörder erzeugen, der sich "Kleiner Erlöser" nennen darf und der die Bösen ermordet. Eine letzte Tat steht ihm noch bevor, und er ist bemüht, sie so routiniert und schnell zu erledigen wie immer. Nur dieses Mal geht etwas schief. Er muss feststellen, dass er den Falschen umgebracht hat, also bleibt er und bemüht sich um sein eigentliches Opfer.

Das Problem, das der Osloer Polizei die Ermittlungen deutlich erschwert, ist, dass der Auftragskiller unsichtbar ist. Niemand hat ihn gesehen und niemand erkennt ihn wieder. Nicht Unscheinbarkeit - sonst beliebter Schutz der Killer - sondern eine ungewöhnliche Modellierbarkeit seines Gesichts, das nie die Form behalten kann, ist die Ursache dafür. Nicht also am Gesicht kann der Killer erkannt werden, sondern nur an seinem Halstuch und wie er es knotet. Später kommt der Geruch hinzu. Knapp 500 Seiten lang bilden nun Hole, einige seiner Kollegen, das richtige und das falsche Opfer und deren Umfeld eine intensive Sozialfigur, in der die Beziehungen und Interaktionen vom Willen des Killers bestimmt sind, seinen Auftrag zu erfüllen, und vom Willen Holes, die Wahrheit zu erfahren. Für die Wahrheit ist er sogar bereit, den letzten Mord hinzunehmen und die Flucht des Mörders. Wahrheit gegen Recht? Wenn Parabeln wie die Nesbøs nicht völlig ins Leere laufen sollen, sind sie als Lehrstücke über den Umgang der Menschen mit sich selbst nicht nur abzulehnen. Sie bilden auch ein Klima ab, in dem der Zivilisation ihre Basis abhanden kommt. Diesmal nicht, weil sie sich als zu schwach erweist, um sich gegen die Desintegrationsmächte, die von außen kommen, zu wehren, sondern weil sie in der Abwehr der äußeren Gefahren sich selbst aufgeben. Das mag als Warnung gemeint sein, oder als Diagnose - transportiert wird aber das Gefühl der höheren Gerechtigkeit. Aber die gehört niemandem und ist schlichtweg unerreichbar. Wer aber würde sich damit zufrieden geben?


Titelbild

Jo Nesbø: Der Erlöser. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob.
Ullstein Verlag, Berlin 2007.
510 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783550086861

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