Elke Heidenreich ist seine Muse

Über Martin Walsers Roman "Ein liebender Mann"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon seit geraumer Zeit klagt Martin Walser das moralische und ästhetische Recht auf ostensibel praktizierte und thematisierte Sexualität für alte Männer ein. Gewährt man ihm die Lizenz zum Alterssex, kommt man nicht umhin, den jüngsten Roman "Ein liebender Mann" als publizistische ejaculatio praecox zu bewerten (und das ist, um es vorwegzunehmen, das Aufregendste, was sich über das Buch sagen lässt). Den Autor drängte es schon im November letzten Jahres, im "Deutschlandfunk" aus dem Manuskript des seinerzeit noch im Entstehen begriffenen Romans vorzutragen; der Rowohlt Verlag kann seine eigene Sperrfrist (7. März 2008) nicht abwarten und gibt das Werk vorzeitig frei (übrigens eine inzwischen so geläufige Verlagspraxis, dass man sich fragt, wozu es überhaupt noch Sperrfristen gibt); die "FAZ" sublimiert das durch häppchenweisen Vorabdruck des Romans interrumpierte Lesevergnügen in einem eigens eingerichteten dark, Verzeihung, reading room, in dem vorwiegend ältere Literaturwissenschaftler Eindrücke ihrer (so wollen wir doch annehmen) vollständigen Lektüre auf dem Podium austauschen. Die einen sind hingerissen, die anderen gelangweilt von Walsers "historischem Liebesroman" über den 73/74-jährigen Goethe und die 19-jährige Ulrike von Levetzow. Goethe-Verehrer begegnen Walser-Kennern, man vergleicht den fiktiven mit dem historischen Goethe, bemängelt die Indiskretion oder feiert die Sinnlichkeit von Walsers Darstellung, gibt Walsers Goethe Tipps fürs Flirten und bezweifelt, dass Goethes Ulrike schon soviel Sinn für Verbalerotik hatte wie die Walsers - kurz: statt des von Walser in Vorabinterviews herbeigeredeten Skandalgeschreis und ungeachtet der krampfhaft um Provokation bemühten Pointe des Romans - eine Morgenerektion des Helden (sehr viel gelungener übrigens in "Lotte in Weimar") - gibt es keine "Wogen der moralisch-ästhetischen Rechthaberei", die Walser so verachtet und auch seinen Goethe verachten lässt - im Feuilleton herrscht vielmehr business als usual. Dafür bürgt schon die Professionalität der von der "FAZ" bestellten Experten, die durch die beigefügten akademischen curricula vitae und Porträtaufnahmen bezeugt wird. Was als Auflockerung textlastiger Internetseiten gedacht sein mag, liefert nebenbei einen Überblick über fotografische Inszenierungen zeitgenössischer Gelehrtenexistenz und illustriert in augenfälliger Weise die vorgetragenen Gedanken als an die Person des Kritikers gebunden, quasi Supplemente seiner Existenz. Dieser Trend zur Personalisierung von Literaturkritik schreibt, indem er Autorschaft und Person verquickt, in der Rezeption fort, was "Ein liebender Mann" am Beispiel Goethes thematisiert und was der Roman qua Machart und Situierung innerhalb von Walsers (Alters-) Werk vorführt: das komplementäre Verhältnis von ICH und ER, erlebender und schreibender Person - und die Ungewissheit des lesenden wie liebenden Gegenübers, mit wem man es denn nun gerade zu tun hat. Walsers Goethe bittet Ulrike, "mir zu erlauben, ER zu sagen. ER ist der, den ich nötig habe, um ICH zu sein. [...] ER ist eine Fassade, von der man hofft, sie wachse nach innen. ICH ist das Geständnis, dass keine Fassade gelingt."

Dem biografisch-poetischen Verwirrspiel, das der fiktive Goethe hier noch zu beherrschen glaubt, wird er schließlich zum Opfer fallen, denn es verbirgt recht lange, wem Ulrike von Levetzows und ihrer Familie Aufmerksamkeit und Zuneigung denn eigentlich gelten, dem "liebenden Mann" oder dem prominenten Autor. In der Doppelgesichtigkeit des männlichen Helden liegt das strukturelle Komplement zur Altersdifferenz von Mann und Frau; die Verquickung beider Motive steigert deren jeweilige Wirkung, wenn die Konstellation des ungleichen Paares aus der Perspektive des alten sozial-avancierten Mannes dargestellt wird, der, indem er eine deutlich jüngere Frau begehrt, sein Alter erst vergisst, es dann aber umso schmerzlicher erleidet und dieses Leid zu thematisieren, schreibend vielleicht gar zu kompensieren sucht. Nimmt man das Potential zur öffentlichen Empörung hinzu, das diese Paarkonstellation grundsätzlich birgt und das die Prominenz des männlichen Parts aktualisiert, wird offensichtlich, inwiefern Goethes Marienbader Erlebnis Walsers Themen der letzten Jahrzehnte bündelt. Elke Heidenreichs Vorwurf, er produziere "ganz ekelhafte Altmännerliteratur", macht Walser sich trotzig als Ansporn zu eigen, dieses Genre durch Goethe, die "edelste [...] Kulturfassade Deutschlands", zu legitimieren.

Das ungleiche Paar beschäftigt Walser schon seit über zwanzig Jahren, und immer war der Autor seinen Figuren im Alter ein paar Jahre voraus: In dem im Jahr 1985 erschienenen Roman "Brandung" beginnt der 55-jährige Halm ein Verhältnis mit einer College-Studentin, später steigert Walser Altersdifferenz und Fallhöhe seiner Protagonisten konsequent: Im "Augenblick der Liebe" trennen den Ex-Makler und Philosophen Gottfried Zürn circa 40 Jahre, seine Ehe, der akademische Titel und mehrere beachtete Publikationen von der schreibgehemmten Doktorandin Beate Gutbrod; in "Angstblüte" (2006) gar liegen mehr als vierzig Jahre zwischen dem siebzigjährigen, verheirateten und vermögenden Anlageberater Karl von Kahn und der mittel- und engagementlosen Nachwuchsschauspielerin Joni: Wie Ulrikes Gesicht in seiner "grandiosen Unaufdringlichkeit" Walsers Goethe zum Ideal des "zuhörenden Gesichts" wird, sind auch die anderen jugendlichen Geliebten die silbernen Schalen, in die ihre wortmächtigen alten Liebhaber goldene Äpfel legen.

Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit männlichen Begehrens objektiviert sich in der Altersdifferenz zwischen den Partnern, an der sich Walsers Helden mit immer neuen Berechnungen abarbeiten. Die bloße Zahl vermag jenen lustgruseligen Schauer zu bewirken, den allein die imaginierte Paarung von Jung und Alt hervorruft, auch weil es schwer bis unmöglich scheint, sich vorzustellen, dass der alte Männerkörper weibliches Begehren weckt (dass er dagegen als Objekt der Gerontophilie taugt, hat Walsers "In Goethes Hand" an Eckermanns Verhältnis zum greisen Dichter vorgeführt). Doch reicht die bloße Differenz des Alters zu jenem ästhetischen und gesellschaftlichen Skandalon nicht aus, als das die ungleiche Paarkonstellation dargestellt werden muss, um den Kampf gegen das eigene Alter, um den es eigentlich geht, in seiner heroischen Aussichtslosigkeit vor Augen zu führen. Dazu bedarf es des realen (oder imaginierten) unverständigen Entsetzens der "Gesellschaft". Im Widerstand gegen sie ist Walsers "liebender Mann" wie alle seine früheren Helden ein einsamer Streiter, in eroticis, wie übrigens Walser selbst auch in politicis, ausschließlich legitimiert durch die Autorität seines subjektiven Gefühls, der einzig anzuerkennenden Instanz.

Nur im "Lebenslauf der Liebe" (2001) gesteht Walser diese Position einer Frau zu, der Düsseldorfer Juristenwitwe Susi Gern, die mit 69 Jahren den nicht einmal halb so alten Marokkaner Khalil liebt und heiratet, so dass die Verletzung von Rollenerwartungen und Gender-Konventionen sowie das kulturelle und soziale Gefälle zwischen den Partnern deren Altersdifferenz noch potenziert. Ein ähnliches Verfahren travestierender Steigerung wählte übrigens schon Thomas Mann, als er die alternde Düsseldorferin Rosalie von Tümmler einen jungen amerikanischen Hauslehrer begehren lässt ("Die Betrogene", 1953) - nach "Der Tod in Venedig" Manns zweiter Versuch, das Skandalon von Goethes letzter Liebe im literarischen cross-dressing vor Augen zu führen.

Kurz: Im Goethe-Ulrike-Stoff konzentriert sich das ästhetische und gesellschaftliche Potential zur privaten Revolution gegen die Anmaßungen von Natur und Geschmack, das dem Motiv des ungleichen Paares innewohnt und das Walser in den Romanen der letzten gut zwanzig Jahre variiert hat. Und so wie Goethe sich in "Ein liebender Mann" des "Werther" und des "Mannes von fünfzig Jahren" rückversichert, um seine gegenwärtige Existenz in der literarischen gespiegelt (und verstetigt) zu sehen, so präsentiert auch Walser den neuen Roman als Ergebnis wiederholter Spiegelungen, indem nicht nur das Thema als gesteigerte Variante dessen erscheint, was Walsers Alterswerk beherrscht, sondern auch einzelne Motive und Konstellationen aus früheren Romanen aufgegriffen und reflektiert werden. Darunter am augenfälligsten die Initialzündung für die Liebe (und deren Roman) in einem doppelsinnigen "Augenblick", der im 2004 erschienenen Roman schon titelgebend war und dort auf einer Terrasse mit Seeblick stattfand. Darin kann man übrigens einen intertextuellen Bezug sehen zu der Terrasse, die für Walsers Goethe einen entscheidenden Schauplatz seiner Liebe zu Ulrike darstellt und die auch schon der historische Goethe als Chiffre verwendet, wenn er seiner Schwiegertochter Ottilie in Aussicht stellt: "weiß sie [...] im Tagebuch den Worten Terrasse, Gesellschaft, Familie den rechten Sinn zu geben, so ist sie ganz in meinem Geheimniß" (an den Sohn August am 25. Juli 1823). In der Tat findet sich im Tagebuch neben zahlreichen Notaten "auf der Terrasse" am 12. August 1823 auch das sprechende: "Auf der Terrasse Augenblick und im Zimmer".

Das Ende der Liebe respektive der männlichen Hoffnung, ungeachtet des Alters geliebt zu werden, kündigt sich in immer gleicher Weise an. Walsers Goethe stürzt in Gesellschaft Ulrikes auf einem feuchten dunklen Waldweg: "Wahrscheinlich war es ein furchtbarer Anblick gewesen, als er sich aufzurichten versuchte. Das würde sie nie mehr vergessen, sein Gerudere mit den Armen und Händen vor dem Sturz". Der Verlust an Körperbeherrschung, die offensichtliche Altersschwäche, die eine Symmetrie des Begehrens unmöglich erscheinen lässt, und der Umschwung von Erotik in Lächerlichkeit - das sind nur einige der Ingredienzien, die das Marienbader Erlebnis zur peinlichen Entgleisung herabwürdigen. Walser, ansonsten ein Meister der Peinlichkeit, macht erstaunlich wenig Gebrauch vom Peinlichkeitspotential seines Stoffes, und das hat wohl wesentlich mit der intendierten Überblendung von ER und ICH, von Figur und Autor zu tun. Sie findet ihren Ausdruck unter anderem in der offensiven Selbstbezüglichkeit und Intertextualität, mit denen Walser seine Goethe-Figur zum literarischen Alter ego macht - zu einem Geist- und Körperverwandten, wenn nicht gar auch der historische Autor als Geistverwandter anvisiert sein mag.

Sturz und Kopfwunde des fiktiven Goethe gemahnen ihn und Ulrike an sein Alter, auch wenn der Herzog die Kopfwunde später der Gesellschaft des Kostümballs als gelungene Anverwandlung an Werthers Schusswunde erklärt. Die Anspielung auf Werthers Ende revidiert denn auch zusätzlich das Glück der Jugend, das Goethe im Werther-Kostüm mit Lotte/Ulrike empfunden beim Tanz hatte: "Und noch nie seit sie sich kannten, waren sie gleich alt gewesen, jetzt waren sie's. Er spürte es, sie legte sich zurück, er hielt sie, sie flogen".

Den körperlichen Einklang mit der Frau im Tanz und dessen abruptes Ende im Sturz hatte schon Halm, Held der "Brandung", erlebt, dort auch als öffentliche Blamage, als er mit der studentischen Geliebten stürzt und sich, wie nunmehr Goethe im Wald, eine Gesichtsverletzung zuzieht.

Und auch Karl von Kahn, siebzigjähriger Held der "Angstblüte", stürzt unter den Augen seiner Geliebten Joni, was ihre sexuell-erotische Beziehung unmittelbar beendet, denn natürlich ist der Sturz, wie die Gesichtsverletzung den gesellschaftlichen Gesichtsverlust metaphorisiert, Metonymie des sexuellen Versagens, Vertreibung aus "dem Paradies" der Alterslosigkeit, zumal sich die geschäftliche und erotische Potenz des Anlageberaters Kahn in der Fähigkeit zum "bergauf beschleunigen" ausgedrückt hatte. Der schnelle Aufstieg ist auch das konkrete und metaphorische Bewährungsfeld von Walsers Goethe, der mit Ulrike auf dem "steilen Weg zur Diana-Hütte" "ihr in ihrem Tempo einen halben Schritt voraus [geht]. Sie erlebte das. [...] Sie waren so einig, so gleichgestimmt wie beim Tanz in Marienbad. Sie waren, wie sie da bergauf stürmten, gleich alt."

Dass sich nicht nur Walsers frühere Protagonisten in der Goethe-Figur spiegeln, sondern auch der Autor, insofern er seinerseits eine literarische Figur geworden ist, wird deutlich, wenn Walser Goethe eine Sehnsucht nach Nähe andichtet: "Es wäre schön, einen Menschen zu haben, der genau die Angst empfindet, die man selber hat. Das wäre Nähe. Das wäre die Nähe selbst" und so auf das Nähe-Projekt anspielt, das Bleibtreu, den weit über sechzigjährigen Titelhelden von Martina Zöllners Ehebruchsroman, mit seiner 36-jährigen Geliebten verbindet. Und es ist weniger die Idee selbst, die wie der "erste Blick" zu den Liebestopoi romantischer Provenienz gehört, als deren programmatische Diskursivierung zum 'Projekt' in der typisch Walser'schen Übertreibungssuada, die hier zur Identifikation der Figuren einlädt: "Wenn du mich jetzt hörtest, wärst du mir sehr nahe. Eine Einverstandenheit verbände uns, die auf den Namen Untrennbarkeit getauft ist. Ulrike." Wenn Walsers Goethe sich porträtieren lässt als eben "kein[en] Direktloslacher" und der Gealterte seine Zahnlücke schamhaft verbirgt, greift auch dies physiognomische Züge und mimische Eigenheiten jenes Bleibtreu auf, den man, liest man Zöllners Werk als Schlüsselroman, mit Walser identifizieren kann.

Unter den bekannten Liebeserlebnissen Goethes, die alle seiner literarischen Fruchtbarkeit förderlich waren und durch diese schließlich auch konserviert wurden, hat das Verhältnis zu Ulrike von Levetzow deswegen einen Sonderstatus, weil es, bei Walser, durch die "Marienbader Elegie" nicht überwunden werden konnte: "Zum ersten Mal hilft es nicht geschrieben zu haben. Nur Schreiben hilft." Das umtriebige Verhalten Walsers, dessen öffentlichen Lesungen aus dem Roman in diesen Wochen schwerlich zu entgehen ist, legt auch hier Analogien nahe, schließlich sucht auch Goethe die Vergegenwärtigung des Schreibvorgangs in der stetig wiederholten Lektüre seiner Elegie, die er sich außerdem von Carl Friedrich Zelter vorlesen lässt.

Mit seinen medienwirksamen Auftritten demonstriert Walser darüber hinaus seine künstlerische Fruchtbarkeit und seine Lust am eigenen Wort. Doch selbst diese Eitelkeiten rühren mehr, als dass sie provozieren: Wie ein "Blitzschlag [...] der Leidenschaft an einem Sommertag, an dem kein Gewitter angesagt war", jedenfalls wirkt die Vermarktung von Alterskreativität auf den Literaturbetrieb nicht, und sie kann ebenso wenig schockieren wie ein Werk, das die "BILD"-Zeitung dazu bewegt, Gottes Segen für den Autor zu erbitten. Der hatte sich ja eigentlich darauf gefasst gemacht, als "Lustgreis" beschimpft zu werden. Doch angesichts von "Ein liebender Mann" spricht - bisher - niemand von "ekelhafte[r] Altmännerliteratur". Schade eigentlich, denn die "hätte er denen gern zugemutet. Wem denen? Allen. Der Welt, der immer neugierigen."


Titelbild

Martin Walser: Angstblüte. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
476 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783499246517

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Titelbild

Martin Walser: Ein liebender Mann. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498073633

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