Eine Pension voller Frauen

Andrea Camilleri erzählt von Sizilien, leider etwas zu anekdotisch

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Mal, wenn der kleine Nenè seinen Vater im Hafen besuchte, kam er an der "Pension Eva" vorbei: "Die Fassade wirkte immer wie frisch gestrichen, und die grünen stets verschlossenen Fensterläden glänzten, als wären sie eben erst bemalt worden. Eine hübsche Villa, mit Blumen auf dem einzigen Balkon im ersten Stockwerk, dessen hohes Fenster ebenfalls niemals geöffnet wurde. Oft stellte sich Nenè vor, dass in diesem Haus gute Feen wohnten, die diejenigen retteten, die sich schuldig gemacht hatten und verzweifelt nach ihnen riefen". Reichlich naiv ist das, denn ebensowenig wie das Haus eine richtige Pension war, wohnten Feen darin. Schöne Frauen, das ja, Frauen, die den Männern zu Diensten sind. Erst nach und nach erfährt der Zwölfjährige von seinen Schulkameraden, dass es ein Haus ist, in dem man nackte Frauen sehen kann. Und das versteht er, denn wie gerne würde er seine hübsche Cousine Angela auch einmal nackt sehen.

Andrea Camilleri ist vor allem für seine beschaulichen und kulinarischen Kriminalromane um Commissario Montalbano berühmt, aber er schreibt auch noch ganz andere Bücher. Bücher, in denen es um die Geschichte Siziliens geht, um seine eigene Geschichte, die er auf viele Personen verteilt. Bücher, die in der Zeit des Faschismus spielen, in denen Morde und Überfälle nicht aufgeklärt werden, weil es nicht opportun ist, weil man Märtyrer braucht und lieber den Kommunisten zum Täter macht. Camilleri erzählt gerne auch aus der Perspektive von Halbwüchsigen, von Kindern, die viel sehen, aber wenig verstehen, die langsam nicht nur erwachsen werden, sondern auch Schreckliches erleben müssen. Aber ab und zu sind auch Camilleris andere Bücher in Gefahr, in Gemütlichkeit zu versinken.

So auch in der "Pension Eva". Sehr schön, sicher und auch sinnlich erzählt Camilleri von Nenès etwas eigensinniger Aufklärung, von seinem Verhältnis mit der schwierigen Cousine, von der nach und nach befriedigten Neugier der Schüler, von den Frauen, die immer nur eine Woche in dieser "Pension" bleiben. Von den kurzen, aber manchmal intensiven Freundschaften zwischen den schüchternen Jungen Nenè, Ciccio und Jacolino und den gar nicht so abgebrühten Prostituierten, die sie am Montag - dem "Ruhetag" - besuchen dürfen. Camilleri erzählt von dem Besuch der Prostituierten auf einem deutschen Lazarettschiff, dem sich die "besseren Damen" des Dorfes verweigerten, weil viele der Soldaten grauenvoll zugerichtet waren. Emanuela mit ihrem deutschen Akzent erzählte hinterher: ",Als ich mich auf den Stuhl ans Kopfende seines Bettes setzte, habe ich gemerkt, dass der Verwundete[...]' Sie unterbrach sich und nahm einen großen Schluck Wein. '[...] keine Beine mehr hatte. Und der linke Arme fehlte ihm.'" Am Schluss weinen alle, die Frauen und die Schüler.

So rührend und menschlich geht es in dem ganzen Buch zu. Da gibt es kleine Liebesgeschichten, unwahrscheinliche Lateinkenntnisse, Widerstandskämpferinnen, sexuelle Spielereien, Duelle, religiöse Verirrungen und die wundersame Erweckung eines alten Mannes, der während eines Bombenangriffs plötzlich wieder "konnte". Aber leider verliert sich die ganze Geschichte ins Anekdotische. Das Buch ist zu harmlos, um einen wirklich rühren zu können, zu oberflächlich, um wirklich etwas von der Zeit zu erzählen, wie Camilleri es in seinen vorherigen Büchern schon gemacht hat. Das ist schade, denn eigentlich sprudelt der Autor nur so von Geschichten, erfundenen und wahren - wer kann schon den Unterschied benennen. Aber in "Pension Eva" fehlt ihm die erzählerische Disziplin, das alles mit der Historie richtig zu verknüpfen.


Titelbild

Andrea Camilleri: Die Pension Eva.
Übersetzt aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Kindler Verlag, Berlin 2008.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783463405094

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