Ain't that a Tic in the Head!?

Eine interdisziplinäre Studie untersucht Methoden und Folgen der therapeutischen Intervention am Gehirn

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der britische Wissenschaftstheoretiker John Dupré sieht als eines der größten dem Reduktionismus geschuldeten Übel den gegenwärtig grassierenden Trend an, das menschliche Tun und Lassen zu "versyndromifizieren": Hätten beispielsweise früher unaufmerksame Schulkinder eben einfach nur als genau solche gegolten, würde bei ihnen heutzutage oft eine "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung" (ADHS) diagnostiziert - die dann auch der "Therapie" bedarf. Besonders bedenklich sei dabei, dass als Beleg für das tatsächliche Vorliegen pathologischer, dysfunktionaler Vorgänge oder Zustände gleich der bloße Erfolg der vorgeschlagenen Therapien angesehen würde. Er kommentiert polemisch: "One can easily imagine, for instance, that threats of violence would concentrate the minds of recalcitrant students. But this hardly shows that they are suffering from corporal punishment deficiency syndrome."

In dem mit "Intervening in the Brain" vorliegenden Abschlussbericht des an der "Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen" durchgeführten Projekts "Eingriffe in die Psyche. Neue Interventionsmöglichkeiten als gesellschaftliche Herausforderungen" werden nun ausgewählte pharmakologische und neurochirurgische Methoden zur Behandlung von unter anderem solchen Syndromen vorgestellt und hinsichtlich ihrer Wirkungen diskutiert. Der im Obigen enthaltene Vorwurf mag dem Leser in den Sinn kommen, wenn es etwa im Pharmakologie-Teil heißt: "Placebo rates are high in children with mild depression, which depression trials tend to study. That means that these children respond very well just to the attention of a study doctor and that sometimes the addition of medication may bring little benefit in comparison to this psychosocial effect." Sind also Depression und ADHS nicht eben doch - wie es Psychiatrie-Skeptiker und Kulturpessimisten ja immer schon wussten - zumindest teilweise bloß die Folgen eines allein durch den (Werte-) Verfall (in) der Gesellschaft hervorgerufenen "Beachtungsdeprivationssyndroms"?

Solche Fragen thematisierte das Projekt indes nur marginal. Der in Englisch verfasste Abschlussbericht ist in zwei Teile gegliedert, welche auch die thematische und personelle Struktur des Projektes widerspiegeln: Im ersten werden vier Methoden der Intervention am Gehirn vorgestellt und diskutiert, nämlich Psychopharmakanutzung bei Kindern und Jugendlichen, Neurotransplantation und Gentransfer, Neuroprothetik sowie Elektrische Hirnstimulation. Sie alle zielen auf die Behandlung psychischer beziehungsweise psychiatrischer, neurologischer oder degenerativer Erkrankungen ab. Beachtung finden hier vor allem Depressionen, Zwangsstörungen und ADHS, sowie Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Multiple Sklerose (MS) und Chorea Huntington.

Der zweite Teil widmet sich der Klärung der Grundlagen und Folgen solcher Eingriffe einerseits in philosophischer, das heißt wissenschaftstheoretischer und ethischer, andererseits in juristischer Hinsicht. Daran schließen sich dann die zwei zusammenfassenden Kapitel zu Ergebnissen und Empfehlungen an, ein englisch- und ein deutschsprachiges (welches hier kostenlos einzusehen ist). Insgesamt bietet der Bericht einen gründlichen Überblick über das behandelte Thema und stellt gerade auch durch den fachübergreifenden Aufbau des zugrunde liegenden Projekts eine lohnenswerte Lektüre dar.

Über allem schwebt dabei die nicht nur vom Laien an die Forschung und Anwendung herangetragene Frage, inwieweit das "messing with someones brain" in ethischer und juristischer Hinsicht vertretbar, sowie bezüglich der jeweils verfolgten Zwecke angeraten ist: Neben der (und aufbauend auf die) Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen der Interventionsmethoden im Therapieeinsatz wird insbesondere angesprochen, inwieweit die weit verbreiteten Vorbehalte gegen solche Methoden gerechtfertigt sind. "To many, enhancement by connecting electronic devices to the human brain will appear, at least prima facie, morally suspect. A variety of science fiction scenarios involving cyborgs and the imminent transformation of the human race into a semi-electronic species have left the public rather perplexed and provoked over-reactions directed against any scientific progress in the field of neural prosthetics."

Speziell Vorbehalte hinsichtlich einer Persönlichkeitsveränderung, welche mit entsprechenden Eingriffen einhergehen kann oder könnte - wobei Veränderungen zumindest im Erleben und Verhalten ja oft gerade das verfolgte Ziel darstellen - werden ausführlich diskutiert und bewertet: "The most common way to express these concerns is to argue that new interventions in the brain may threaten personal identity. [...] The vague fear that due to the treatment they may no longer be ,the one I used to be' could prevent individual patients from undergoing such medical procedures." Nach detaillierter Erwägung, was denn eigentlich genau als diese zu schützende "Identität" angesehen werden dürfe und wie und inwiefern sie zu bewahren sei, versucht die Studie daher, entsprechende Ängste zu zerstreuen, sofern sie als unbegründet anzusehen sind.

Dass indes der Einsatz entsprechender Methoden durchaus seine Tücken und Nebenwirkungen hat, wird sehr deutlich herausgearbeitet: Nicht allein sei für alle vier Bereiche ein eklatanter Mangel an Langzeitstudien zu Erfolg, Nachhaltigkeit und Nebenwirkungen zu beklagen - gerade auch für das durchaus nicht neuen Gebiet der Psychopharmakaverabreichung an sich noch im Wachstum befindende, dadurch leichter, weitreichender und gegebenenfalls endgültiger beeinflussbare Patienten. Auch würden die so weiterhin bestehenden Unabwägbarkeiten durch den Umstand potenziert, dass immer auf "breiter Front" vorgegangen werde - und werden müsse: Es könnten (zumindest gegenwärtig, eventuell aber auch zukünftig) nicht einzelne - und zwar genau die relevanten - Neuronen behandelt (transplantiert, stimuliert et cetera) werden, sondern es werde notgedrungen gleichsam "mit dem Vorschlaghammer" (wie sich ein Betroffener andernorts äußerte) operiert, indem Psychopharmaka Einfluss auf breite biochemische und physiologische beziehungsweise kognitive, emotive und motivationale Zusammenhänge, sowie Tiefenhirnstimulation, Neurotransplantation und -prothetik auf größere lokale und funktionale Bereiche haben. Gerade die Auswirkungen beziehungsweise die Auswirkungsvarianzen letzterer Methoden lassen sich nicht allein aufgrund der Plastizität des Gehirns und der Schwierigkeit systematisch vergleichender Studien - die schließlich in Bezug auf nicht "bloß" neurologische Erkrankungen ultimativ allein an Menschen durchgeführt werden könnten - nur ungenau im Voraus bestimmen. Auch der Umstand, dass weder die exakten individuellen neuronalen "Verschaltungen" angebbar, noch deren spezifische Funktion auf höherer kognitiver Ebene erklärbar sind, erschwert das Bemühen um verlässliche Prognosen.

All diese Vorbehalte und Nebenfolgen lassen sich am im Buch geschilderten Fall einer Patientin veranschaulichen, die anfangs die krankhafte Vorstellung hatte, Pflanzen mit weißgestreiften oder roten Blättern würden bei Berührung Gift absondern und sich daher möglichst von ihnen fern hielt. Bei Aktivierung zweier in ihr Gehirn implantierter Elektroden bot sich ein gänzlich anderes Bild: "When the stimulator was turned on, [...] she started to touch the plants spontaneously and even cleaned them and removed dead leaves. When she was asked to crush the leaves in her hands she had no problem doing so. She even subsequently licked the fluid from her hand, and when she found out she had a small red leaf from the red plant in her mouth she did not care and swallowed it." Die Amplitude der stimulierenden elektrischen Spannung musste daraufhin etwas verringert werden, denn ein solch gänzlich sorgloser Umgang mit jenen - möglicherweise tatsächlich giftigen - Pflanzen war ebenfalls nicht gutzuheißen. Dass sich unvorhergesehene beziehungsweise -sehbare Nebenfolgen mitunter aber nicht so einfach - und selbst dann gegebenenfalls nur durch schlichtes Ausprobieren - unter Kontrolle bringen lassen, schildert übrigens auch der Soziologe Helmut Dubiel, der sich aufgrund seiner Parkinsonkrankheit einer Tiefenhirnstimulationstherapie unterzog, sehr anschaulich in seinem Buch "Tief im Hirn".

Aus der interdisziplinären Anlage des Projekts ergibt sich insgesamt ein inhomogenes Gesamtbild: Stellen sich die ersten drei Methodenkapitel als generelle Zusammenfassungen des Bereichs ihrer jeweiligen Thematiken dar, trägt der Abschnitt zur elektrischen Hirnstimulation eher Züge einer Einzelstudie. Sicherlich ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass gerade die Methode der Tiefenhirnstimulation noch relativ neu ist, dabei also bezüglich der Historie und des Rückgriffs auf verschiedene Arbeiten nicht so weit ausgeholt werden kann, wie etwa bei der Pharmakologie.

Der Wechsel vom ersten zum zweiten Teil, also quasi von der transkraniellen Magnetstimulation zum Schiff des Theseus ist dann ebenfalls ein überaus deutlicher. Eine Verbindung zwischen den einzelnen, ansonsten bloß nebeneinander stehenden Kapiteln stiftet außer dem zusammenfassenden leider nur das philosophische: Es mag den Leser erstaunen, dass etwa in allen vier Kapiteln des ersten Teils die jeweils behandelte Methode gelobt wird ob der mitunter zwar eingeschränkten - Medikamente können zwar abgesetzt werden, jedoch in Heranwachsenden schon bleibende Auswirkungen gehabt haben -, gleichwohl aber vergleichsweise hohen Reversibilität der mit ihr durchgeführten Interventionen am Gehirn.

Zu begrüßen ist das 12-seitige, die prominentesten Ausdrücke umfassende (englische) Glossar. Dass die Gliederung der beiden zusammenfassenden Kapitel ausführlich nur direkt vor den jeweiligen Kapiteln, nicht jedoch in der Inhaltsübersicht am Anfang des Buches angegeben wird, irritiert hingegen ein wenig. Ein Register wäre bei den mehr als 500 Seiten durchaus hilfreich gewesen.


Titelbild

Reinhard Merkel / Gerard Boer / Jörg Fegert / Thorsten Galert / Dirk Hartmann / Bart Nuttin / Steffen Rosahl: Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society.
Springer Verlag Berlin, Berlin 2007.
533 Seiten, 80,20 EUR.
ISBN-13: 9783540464761

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