Süße Melancholie

Stephan Wackwitz entdeckt sich im Osten Europas

Von Jürgen WichtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wicht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heute noch, da die infrastrukturellen Unterschiede zwischen Ost und West längst spürbar geringer geworden sind und Luxus westlichen Standards auch jenseits von Wien keine Seltenheit mehr ist, beschleicht den Reisenden im Osten Europas zuweilen ein unbestimmtes Gefühl der Fremdheit.

Als Stephan Wackwitz 1999 die Leitung des Goethe-Instituts im polnischen Krakau übernahm, könnte es eben jenes, mit der Empfindung eines unzureichenden Einblicks in die osteuropäischen Befindlichkeiten einhergehende, Gefühl gewesen sein, das ihn zu den intimen Erkundungen seines neuen Essaybandes "Osterweiterung" veranlasste.

Ein früherer Reisender, der Historiker Karl Schlögel, formulierte 1991 das Ende einer erzwungenen Indifferenz. Er sah Länder, die vormals aus der Zeit herausgefallen zu sein schienen, um nach dem Zusammenbruch des Kommunismus langsam wieder in die Gegenwart einzutreten. Ähnlich scheint es Wackwitz zu ergehen, der östlich von Wien ein Loch in der Welt konstatiert. Oder handelt es sich dabei doch eher um ein unerschöpfliches Reservoir neuer Impressionen und vergessener Historie, das erst wieder entdeckt werden muss?

Europa, so wie es sich nach 1989 zu formatieren begonnen hat, ist das Produkt der Weltkriegsepoche. Die ehemals dem Ostblock zugehörigen Länder waren dem westlichen Einblick rund vierzig Jahre lang entzogen. Aber auch der Eiserne Vorhang ist bereits seit geraumer Zeit Geschichte und der Schriftsteller schickt sich an, den verbliebenen Schleier über Osteuropa ein wenig weiter zu lüften. Im einleitenden Text gibt er die Richtung vor: Historische, soziologische, aber immer auch persönliche Betrachtungen sind es, die er von seinen Reisen mitgebracht hat. Dass dem Schleier des Vergessens ein Hauch süßer Melancholie folgt, ergibt sich folgerichtig aus der empfindsamen Aufmerksamkeit des Autors.

Die zwölf Reiseberichte fokussieren auf den Mikrokosmos Osteuropas, der sich in den Städten und den in ihnen lebenden Menschen manifestiert. Die Subjektivität einer solchen Auswahl ist zwangsläufig, denn man betrachtet nur, was zuvor bereits als Anlage vorhanden war. Alle Vorerfahrungen, alles Wissen, alle Träume und Wünsche lassen Eindrücke entstehen, die kunstvoll in die Lebenswirklichkeit des Essayisten reichen: Beim Besuch der Krakauer Tuchhallen, des "Museum[s] für Nationale Scheinschwangerschaft", illustrieren die beschriebenen Exponate weniger ästhetische Originalität, als vielmehr polnische Historie und Mentalitätengeschichte; die Wackwitz, ganz nebenbei, mit Reflexionen des - aus seinem Familienroman "Ein unsichtbares Land" - bestens bekannten Großvaters verbindet.

In Kattowitz bemerkt der Reisende zwischen weit entfernten Orten Ähnlichkeiten, die durch die Entfernung erstaunlich unberührt scheinen und erst durch die historische, gemeinsame Bergbautradition zwischen Oberschlesien und dem Ruhrgebiet verständlich werden. Andere Städte wiederum, wie Kalwaria Zebrzydowska, das eine Nachbildung Jerusalems darstellt, oder das funktionalistische Zlín mit der utopischen Gartenstadt des visionären Industriellen Tomáš Bata, machen durch ihre Einzigartigkeit auf sich aufmerksam.

Einzigartig sind auch die Menschen, denen der Chronist auf seinen tatsächlichen und gedanklichen Streifzügen begegnet: Etwa Julia Warhola, die Mutter des berühmten Pop-Art-Künstlers, deren Stolz auf das Besondere der einfachen Verhältnisse dem Selbstverständnis vieler Ukrainer entspricht - auch wenn diese, ähnlich wie der vogelartig zarte, distinguierte ältere Herr an anderer Stelle, unter den vom Kapitalismus ausgelösten umwälzenden Veränderungen in Osteuropa leiden.

All das verpackt Wackwitz mit außerordentlichem handwerklichem Geschick als gelehrtes Essay, lässig eleganten Bericht oder launische Anekdote. Dass er sich dabei gerne, ganz im Stile der Postmoderne, zitierend fortbewegt, stört keineswegs, denn es geschieht immer mit einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit, die zu gefallen weiß. Bemerkenswert ist, wie pointiert seine Impressionen sind. Zwar gefällt er sich in einer intellektuellen Attitüde, stellt diese aber nie in den Vordergrund. Elias Canetti, der von den Dichtern forderte, "daß man spürt, wie viel mehr der Verschweigende weiß, als er sagt und daß er nicht aus Beschränktheit schweigt, sondern aus Weisheit", hätten die Essays des Bandes vermutlich gefallen.

Bemerkenswert auch die elaborierte Fähigkeit des Autors, mit der er Poesie und Sinn verbindet. In seinen Texten "verschwindet ein Gefühl des Bewohnt und Durchgearbeitetseins aus der Landschaft", Gänse scheinen "an unsichtbaren Instinktlinien aufgereiht" und da errechnet sich die Dichte von Städten aus "historisch überlieferter Gedankenmasse und Fläche". Vermeintliche Zwerge werden da schnell zu Riesen. Das ist klug, poetisch und sehr schön zu lesen.

Stephan Wackwitz verbirgt seine Vorbilder übrigens nur selten. In "Terrain Vague" finden sich beispielsweise Anklänge an E.T.A. Hoffmann. Dort lässt Wackwitz seinen Blick aus der Dachgeschosswohnung über das prosperierende Bratislava schweifen, genau so, wie der alternde Schriftsteller in "Des Vetters Eckfenster" zweihundert Jahre zuvor auf den Berliner Gendarmenmarkt geschaut hat. Das Ergebnis ist, hier, wie schon bei Hoffmann, ein Produkt aus innerer Schau und äußerer Wirklichkeit.

Bisweilen erinnert die Prosa an die empfindsamen Reisen eines W.G. Sebald oder Laurence Sterne. Wackwitz gleicht in diesen Momenten einem einsamen, melancholischen Wanderer, dessen Gefühle ebenso schwerelos durch die Gegend zu streifen scheinen wie er selbst.

Vielleicht ist es diese latente Melancholie, die besonders kennzeichnend für den Osten, die dort lebenden Menschen und die subjektive "Osterweiterung" des Autors ist, der dort am stärksten erscheint, wo er Reisebeschreibung und Historie mit seinen persönlichen Reflexionen verknüpft. Er lässt, obschon an fremden Orten, vorwiegend die Gedanken schweifen und führt den Leser auf assoziativen Spaziergängen zu mitunter überraschenden Zielen. Reiseberichte gibt es viele - auch aus dem europäischen Kernland - doch selten waren sie so intim und zugleich intelligent wie bei Stephan Wackwitz.


Titelbild

Stephan Wackwitz: Osterweiterung. Zwölf Reisen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
222 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783100910578

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