Von (auto)erotischen Provokationen über autofiktive Erzählspiele zur Trauerarbeit

Der amerikanische Erzähler Philip Roth wird 75 Jahre alt

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Philip Roth geht regelmäßig schwimmen, er fühlt sich fit. Seit dem 11. September 2001 lebt er wieder vermehrt in New York, nicht mehr nur zurückgezogen auf seiner Farm in Connecticut. Und er hat sein nächstes Buch - nun wieder ein umfangreicheres, das von jungen Männern in der Zeit des Koreakriegs der 1950er-Jahre handelt - schon fertig. Es soll "Indignation" heißen und wird im Herbst in den USA erscheinen.

All dies zu erwähnen, ist vielleicht nicht unwichtig bei einem Autor, der am 19. März 1933 geboren wurde, dessen Werke meist unmittelbar als autobiografische Schlüsseltexte gelesen werden und in dessen späten Romanen (von "Sabbaths Theater" über "Der menschliche Makel" bis zu "Das sterbende Tier", "Jedermann" und "Exit Ghost") ein erschütternd detailliertes Panorama der Krankheiten, Niederlagen und Verluste alternder Männer entfaltet wird. Philip Roth ist nicht nur ein Autor mit einem unvergleichlich breiten und starken Alterswerk. Er ist auch der Romancier, der wie kein anderer das Altern als Thema seiner Erzählkunst in immer neuen, kühnen Fantasien spielerisch durchleidet.

In Deutschland findet Roths beharrliche, literarische Bewältigung des Alterns wie seine beeindruckende Produktivität der späten Jahre vielleicht ein Pendant im sechs Jahre älteren Martin Walser. Doch sind die schriftstellerischen Triumphe des amerikanischen Meistererzählers in der Imagination und formalen Bändigung von Alterserfahrungen, von Abschieden und Erinnerungen, von seelischen Schmerzen und körperlichen Leiden emotional noch mitreißender und erzähltechnisch raffinierter als die unseres alemannischen Nationaldichters, der sich jüngst in Goethes letzte Liebe hineinfantasierte.

Dabei waren gleich die schriftstellerischen Anfänge Roths mit dem Buch "Goodbye Columbus" 1959 ein beachtlicher Erfolg: Er empfing für den Band mit fünf Erzählungen und einem Kurzroman den wichtigen "National Book Award", durch den auch sein wunderbar böses, alterswildes Buch "Sabbaths Theater" 1995 nochmals gekrönt wurde. Den ganz großen Publikumserfolg (und eine Menge Probleme mit der jüdischen Gemeinschaft in den USA) erzielte Roth 1969 mit dem Bestseller "Portnoys Beschwerden", in dem die sexuellen Obsessionen und familiären Schwierigkeiten eines jungen jüdischen Mannes in damals schockierender Offenheit behandelt werden.

Roth hatte nach einem Literaturstudium und einem zweijährigen Militärdienst kürzere Erzählungen sowie Kritiken für Magazine (etwa "The New Republic") geschrieben und arbeitete dann lange als Dozent für kreatives Schreiben an diversen großen amerikanischen Universitäten. In diesem akademischen Milieu spielte auch sein zweites Buch "Letting Go" (in deutscher Übersetzung publiziert als "Anderer Leute Sorgen"). Noch vor "Portnoys Complaint" probierte dieser seither als Männer-Autor geltende und gelegentlich von feministischer Seite attackierte Romancier auch einen Roman aus der Erzählperspektive einer Frau: "When she was good" (in Deutsch als "Lucy Nelson oder die Moral" erschienen).

Den großen Erfolg, die Publizität und den Ärger, die "Portnoys Beschwerden" provozierten, verarbeitete Roth durch die gewitzte Erfindung von Stellvertreterfiguren, die in seinen Romanen seit den 1970er-Jahren als Schriftsteller ähnliche biografische Grundrisse aufweisen und mit ähnlichen Themen experimentieren: ambivalente Familienbindungen und jüdische Identitätsdiskurse, schweifendes Begehren und sehr expliziter Sex. Und die fiktiven Doppelgänger laborieren zudem an einem ähnlich ambivalenten, öffentlichen Feedback und an ähnlichen Verschachtelungen von Leben und Werk wie ihr Erfinder.

Sein berühmtestes alter ego, Nathan Zuckerman, dem der jüngst erschienene Roman "Exit Ghost" einen etwas traurigen, (wohl) letzten großen Auftritt bescherte, war zuerst nur eine Nebenfigur in dem 1974 erschienen Roman mit dem markanten Titel "Mein Leben als Mann"; Zuckerman trat hier auf als Erfindung des fiktiven Erzählers Tarnopol. In der später als "Zuckerman Trilogy" (nebst dem kleinen, politisch angereicherten Epilog "Die Prager Orgie") zusammengefassten Romanfolge "Der Ghostwriter", "Der entfesselte Zuckerman" und "Die Anatomie Stunde" (1979-1985) durchlebt dieser erotisch umtriebige Stellvertreter allerlei Ehen und Affären und schließlich Krankheiten und Schreibkrisen, die ihn bis zur Aufgabe des Schriftstellerberufs und zum Versuch eines Medizinstudiums treiben.

In einer neuerlich zur Tetralogie anwachsenden Sammlung von Werken, die Roth gelegentlich selbst als seine "Autobiografie" bezeichnete ("Gegenleben", "Tatsachen", "Täuschung" und "Mein Leben als Sohn"), verhandelte er um 1990 weiterhin in raffiniert konstruierter Manier den Zusammenhang von gelebtem Leben und fiktiv phatasmatischen Spiegelungen. Diesmal unter dem Vorzeichen des Faktischen - das freilich letztlich doch wieder als Flunkerei erscheint und spielerisch dekonstruiert wird. Besonders der Roman "Gegenleben" betreibt sein virtuoses Spiel mit fingierten Biografien, die im Modus von Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein" potentielle Lebensalternativen für Zuckerman und seinen Bruder durchspielen.

Diese bis zur Orientierunsglosigkeit gesteigerten Spiegelkabinette der Optionen, der potentiellen Lebensläufe und Todesarten werden mit Roths folgendem Buch "Tatsachen" ausbalanciert. Die fantastischen Ebenenwechsel weichen wieder stärker realistischen Berichten, dessen Erzählstimme nun gar als "Philip Roth" persönlich firmiert. Doch auch hier finden wir keineswegs die nackten, verbürgten Fakten eines Lebens; vielmehr taucht der fiktive Stellvertreter Nathan Zuckerman an den Rändern des Buches auf. Zuckerman empfiehlt seinem Autor Roth, dieses Buch, das soviel schwächer sei, als die, in denen er als Hauptfigur agiere, nicht zu publizieren.

In "Täuschung" formuliert der als Philip Roth auftretende Erzähler: "Ich schreibe Fiktion, und man sagt mir, es sein Autobiographie, ich schreibe Autobiographie, und man sagt mir, es sei Fiktion, und da ich folglich so schwer von Begriff bin, und die so klug sind, sollen die anderen doch entscheiden, was es nun ist oder nicht ist." Und im Gespräch mit Volker Hage erklärt Roth: "Der Rahmen macht das Ganze interessant. Das Argumentieren mit sich selbst, die Dialektik, gehört zu meiner Autobiographie." Und entgegen der naiven, feinsäuberlichen Trennung von Leben hier und Dichten da, expliziert der Meister autofiktiven Erzählens: "Auch die Fiktion ist Teil meiner Autobiographie." Wie sollte das auch anders sein, bei einem Menschen, dessen Leben weitgehend aus fleißiger Arbeit, und dessen Arbeit aus dem Erfinden von Geschichten, aus Fantasietätigkeit besteht.

Diese relativierenden Gegenüberstellung von erfundenem und "realem" Leben hatte Roth auch schon 1974 in "Mein Leben als Mann" vorgenommen, wo die Fiktionen des Schriftstellers Peter Tarnopol den ersten Teil des Buches ausmachen, seine Lebensbeichte den zweiten Teil. Im Gegensatz zu anderen Schriftstellern, die das Schreiben selbst und die Autorenexistenz zum Gegenstand ihrer Bücher machen, geht es bei Roth allerdings nie anämisch oder vergeistigt zu: dafür bürgen schon seine emotional aufgeladenen Lieblingsthemen (Papa, Mama, Sex und Tod) und sein großes Geschick im Entwerfen von Charakteren und Dialogen.

Im Gespräch 1991 hielt Roth seine Beschäftigung mit Nathan Zuckerman für beendet: "Ich glaube nicht, daß mir diese Figur noch einmal nützlich sein kann. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß ich noch einmal zu ihr zurückkehren werde. 'Gegenleben' hat die Möglichkeiten erschöpft, soweit ich das im Augenblick absehen kann."

Doch es kam bekanntlich anders, die Figur erlebte ihre Wiederauferstehung. Sie war alles andere als ausgeschrieben - und so ist womöglich auch das Verschwinden des kranken, resignierten Zuckermans am Ende von "Exit Ghost" (2008) noch nicht das letzte Wort zum Leben dieses nun alt und impotent gewordenen Outsiders.

In den großen späten Romanen "Amerikanisches Idyll" und der "menschliche Makel", fungierte Zuckerman zwar nicht mehr als Protagonist, sondern hielt sich als der nüchterne Chronist (ohne eigene Liebesturbulenzen) dieser politischen und gesellschaftlichen Panoramen der USA im Hintergrund. Das "amerikanische Idyll" widmet sich der Geschichte des amerikanischen Linksterrorismus im Kontext des Vietnamkriegs. "Der menschliche Makel", der auch prominent verfilmt wurde mit Anthony Hopkins und Nicole Kidman, adressiert nicht nur die ewige amerikanische Wunde der Rassenfrage, sondern auch die political correctness in eroticis. Im Interview mit Volker Hage attackierte der Freigeist Roth die politisch korrekten Sprach- und Spielregelungen an amerikanischen Universitäten als üble Ideologie und als "eine Art zynischer Talibanismus".

Neben Nathan Zuckerman tauchte auch noch ein weiterer Ich-Erzähler namens David Kepesh, ein Literaturprofessor und erotischer Gourmet, in mehreren Romanen auf: In der kafkaesk surrealen Fantasie "Die Brust" (1972) und sodann als "Professor der Begierde" (1977). Und schließlich ist Kepesh im Spätwerk nochmals Ich-Erzähler in "Das sterbende Tier". Titel und Schlussszenario dieses Kurzromans lassen offen, ob die Sterblichkeit der jungen, attraktiven, fatalerweise an Brustkrebs erkrankten Geliebten des alten Professors gemeint ist - oder nicht eher der Tod des sexuell obsessiven Tieres im Professor Kepesh, der sich angesichts der Faszination für die junge Frau vom unverbindlichen Genießer zum mitleidsvoll Liebenden wandelt.

Als sixtysomething, also in dem Alter, in dem andere Leute so langsam den Vergnügungen, Ablenkungen oder kompensierenden Übersprungshandlungen des Ruhestandes anheim fallen, geht Philip Roth das Thema Altern mit der gleichen unverschämten Offenheit an, wie zuvor sein Leitmotiv des sexuellen Begehrens. Schon 1991 in "Mein Leben als Sohn" hatte er das Sterben des eigenen Vaters literarisch verarbeitet. Seit dem fulminanten Wälzer "Sabbaths Theater" über die Trauer eines alt gewordenen erotischen Libertins und künstlerischen Provokateurs, erfindet Roth immer wieder Protagonisten, die Freunde und Familienangehörige zu Grabe tragen, die an Krankheiten laborieren und mehr oder weniger von Zeit und Alter gebeutelt auf ihr eigenes Leben zurückblicken. Im "FAZ"-Interview mit Felicitas von Lovenberg erklärte der Altmeister: "Sie haben die allergrößte Veränderung noch vor sich. Denn ich muss Ihnen sagen: Die größte Überraschung von allen ist das Alter. Nicht nur für mich. Neulich sprach ich mit meinem Bruder, der gerade achtzig geworden ist, und er kicherte am Telefon und sagte: Ist es zu fassen? Wie kann ich achtzig sein? Und ich sagte: Keine Ahnung, als ich das letzte Mal nachgesehen habe, schliefst du im Bett nebenan und warst ein Kind!" Auf die Frage nach erfreulichen Entwicklungen und positiven Überraschungen im Alter, replizierte der lebenserfahrene Lakoniker: "Nun, die beste ist, dass man es überhaupt so weit geschafft hat, während andere gestorben sind. Aber insgesamt habe ich nicht viel daran gefunden, das ich empfehlen könnte."

Im Mittelpunkt von "Sabbaths Theater", das Volker Hage als Roths "garstigstes" und bösestes Buch bezeichnet, steht der so abscheuliche wie faszinierende, altgewordene Provokateur Mickey Sabbath, ein Puppenspieler, Theaterregisseur und Sex-Maniac: "Sabbath ist ein widerlicher Alter, halb Lear, halb Falstaff, unbelehrbar und geil. Dabei hält er sich für charmant. [...] In bewährter Tradition des Rothschen Dauerdialogs mit sich selbst steht die Frage im Raum: Was eigentlich bringen die Gefechte und Provokationen von gestern?" Doch die Trauer um die Verluste geben Sabbath eine tragische Dimension; sein Initialschmerz, der zum transgressiven Lebenslauf führte, war wohl der Tod des bewunderten großen Bruders, der als Pilot der Air Force im Zweiten Weltkrieg starb. Hage deutet diesen altgewordenen Künstler-Rebell und zitiert eine bezeichnende Suada, in der sich Philosophie, Poesie und Provokation die Waage halten: "Sabbath ist einer, dem im Leben alles entgleitet, dem immer schon alles entglitten ist, er ist das ewige Kind, der unangepaßte Lüstling, der nun, als alternder Mann erkennen muß: 'Der Abend senkt sich herab, und Sex, unser großartigster Luxus, entflieht mit Riesenschritten, alles entflieht mit Riesenschritten, und man wundert sich über die Torheit, mit der man auch nur auf einen einzigen richtig schmutzigen Fick hat verzichten können'."

Mickey Sabbath laboriert permanent zwischen dem Wunsch nach Entgrenzung und Unendlichkeit sowie dem Faktum von Grenzen und Sterblichkeit. Roths Spätwerk kommt auf diese Spannung immer wieder zurück. Seine Protagonisten versuchen - mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger verzweifelt - der nahenden Grenze des Lebens durch sexuelle Entgrenzungen eine vitale Revolte entgegenzusetzen. Neben dem Gefühl von Unendlichkeit und Grenzaufhebung im Sex will Sabbath auch in seinen endlosen Provokationen gegen die herrschenden, ideologischen Lebensregeln Schranken niederrennen. Doch führt ihn sein lebenshungriger Protest gegen die Endlichkeit letztlich vor allem zurück in die Vergangenheit. Der Wunsch, die Toten zurückzuholen, mit der Mutter und dem Bruder zu sprechen, die verschwundenen Geliebten wiederzufinden, ist eine weitere Variante von Sabbaths und letztlich natürlich von Roths Anarbeiten gegen die Vergänglichkeit.

Sex und Schreiben sind für Roth die beiden quasi magischen Praktiken, in denen die menschliche Endlichkeit überwunden werden kann. Sein Werk steht nunmehr also gleichermaßen im Banne von Eros und Thanathos. Und sprachlich ist Roth der Erotik nicht weniger virtuos gewachsen als nun der Trauer- und Erinnerungsarbeit angesichts des Schwindens der Lieben, der Körperkräfte und des Sex'. In "Das sterbende Tier" bemerkt der Ich-Erzähler: "Was soll man machen, wenn man zweiundsechzig ist und der Drang, das zu ergreifen, was noch greifbar ist, nicht stärker sein könnte? Was soll man machen, wenn man zweiundsechzig ist und all die Körperteile, die bisher unauffällig waren (Nieren, Lunge, Arterien, Gehirn, Därme, Prostata, Herz) im Begriff sind, sich Besorgnis erregend bemerkbar zu machen, während das Organ, das sich ein Leben lang mehr als alle anderen bemerkbar gemacht hat, dazu verurteilt ist, zur Bedeutungslosigkeit zu verkümmern?".

Sein vorletzter Kurzroman, "Jedermann" beginnt gleich mit der Beerdigung des Protagonisten; erschütternde Friedhofsszenen an den Gräbern der Geliebten und der Eltern fanden sich auch in "Sabbaths Theater", die in "Jedermann" am Ende nahezu zitathaft wiederholt werden. "Jedermann" erzählt recht gefasst und lakonisch, ja mit wunderbaren Funken von Ironie, die zum vorweggenommenen Ende führende Krankengeschichte seines namenlosen Erzählers. Der witzelt, wenn er seine Autobiografie schriebe, würde er sie betiteln als "Leben und Sterben eines männlichen Körpers". Ein englischer Kritiker bezeichnete "Everyman" als "a veritable shopping list of the indignities of old age". Roth hat nach eigenen Aussagen diesen Roman begonnen am Tag nach dem Begräbnis seines engen Freundes Saul Bellow. Der Protagonist hat drei Ehen hinter sich, zwei Söhne, die ihm die Trennung von ihrer Mutter nie verziehen und eine liebevolle Tochter. Er war erfolgreicher Art Director in der Werbeindustrie und versucht sich nun im noblen Seniorendorf an der Malerei und unterrichtet andere darin. Er leidet an seiner erotischen Biografie, mithin an den Frauen, die ihm einst allzu leicht zufielen. Wobei er die gute Phoebe, die zu ihm passte, wie immer vom Begehren getrieben für ein lebensuntüchtiges dänisches Model verließ. Im Seniorendorf bleibt ihm nun neben der Fülle der Erinnerungen nichts mehr, als begehrlich den jungen Joggerinnen nachzustarren oder die Schmerzen seiner am Krebs laborierenden, älteren Malschülerinnen zu bemitleiden.

Pünktlich zum 75. Geburtstag des Autors hat der Roth-Kenner und SPIEGEL-Literaturredakteur Volker Hage ein Bändchen vorgelegt mit seinen Porträts, Interviews und Rezensionen von 1986 bis 2008. Zu den schönsten Passagen darin - neben den gerade durch ihre lakonische Nüchternheit ergreifenden Bonmots zu Alter, Trauer und Abschieden - zählen die Bekenntnisse des amerikanischen Schriftstellers zur Psychonanalyse, die ihn als Mensch rettete und "überhaupt erst zum Subjekt machte". Im Gegensatz zu Sigmund Freuds Ratschlag an Rainer Maria Rilke, lieber keine Analyse zu beginnen, hält Roth die psychoanalytische Sprechkur nicht für kreativitätsgefährdend: "Die Psychoanalyse ist in meinen Augen - auch für die Literatur - eine enorme Bereicherung des intellektuellen Lebens. Es ist eine andere Form von Diskurs, aber ein Diskurs, den viele Autoren vorzüglich aufgegriffen haben." Überraschend hingegen ist sein harsches Verdikt über Woody Allen, den man in Europa doch häufig als eine Art Bruder im Filme zum jüdisch-amerikanischen Ostküstenautor begreift. Roth bekennt, dass er Woody Allen nicht ausstehen kann und sich über die Bewunderung der Europäer wundert, die er für einen Anfall von Naivität hält: "Am albernsten ist es, ihn für einen New Yorker Intellektuellen zu halten. Er hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen Gedanken gehabt. Sieht man das nicht an seinen Filmen?". Ob diese Kritik zutreffend ist, darf man füglich bezweifeln.

Kein Zweifel aber besteht an der Größe von Philip Roths Beitrag zur Romankunst des 20. Jahrhunderts. Kaum ein anderer hat die Verhältnisse von autobiografischem Schreiben und fiktional-fantasmatischen Anteilen der Autofiktion so gründlich und raffiniert durchgespielt wie dieser amerikanische Meistererzähler. Nur wenige andere Autoren können als aufmerksame Chronisten gegenwärtiger amerikanischer (und speziell: jüdisch-amerikanischer) Befindlichkeiten Philip Roth das Wasser reichen. Die Höhenflüge und Niederlagen der sexuellen Befreiung seit den 1960ern, die Risiken und Nebenwirkungen entfesselter (männlicher) Erotik sind kaum anderswo in solch eindringlicher und rückhaltsloser Weise literarisch reflektiert wie in Roths nun nahezu 30-bändigem Œuvre, das in der prestigeträchtigen "Library of America" schon zu seinen Lebzeiten als Werkausgabe ediert wird. Und niemand, der über Altersbilder und Spätwerke nachdenkt, kommt künftig an der exemplarischen Trauerarbeit vorbei, die Roth in seinem brillanten und monumentalen Werk der letzten 15 Jahre leistet.

Aus den Krankheiten und Trauerfällen, aus den Erinnerungen und Lebenskatastrophen seiner Figuren entwickelt der amerikanische Klassiker, unbeirrt und tapfer, tragikomische Klagegesänge über die Vergänglichkeit, die Beschränktheiten der Körper und die mehr qual- als lustvolle Unendlichkeit des Begehrens. Bei aller Morbidität des Dargestellten bewahrt die Erzähl- und Perspektivenkunst Roths immer einen virtuos spielerischen, also heiteren Gestus. Die reflektierende Bannung der Zumutungen des Lebens mittels literarischer Formung und ironischer Spiegelkabinette der Stellvertreterfiguren wird beim späten Roth anschaulich als Trost der Literatur. Die Impotenz und Inkontinenz im Leben seiner Lieblingsfigur Zuckerman ermöglicht in geradezu hegel'scher Logik - nach der nur das Bewusstsein, das dem Tod ins Auge zu sehen vermag, die nächste Stufe in der Phänomenologie des Geistes erreicht - den Triumph des Autors Roth. Als potenter Erzähler von immer "kontinenter" werdenden Alterswerken ist Roth konkurrenzlos.


Titelbild

Volker Hage: Philip Roth Bücher und Begegnungen.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
156 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230163

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