Stadt ohne Namen?

Ricarda Junge erzählt eine schöne Geschichte

Von Lars ClaßenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lars Claßen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe nie viel Glück mit meinen Schuhen gehabt. Sie sind immer zu eng, zu klein, zu weit, und wenn ich einmal ein Paar Schuhe habe, das passt, bricht der Absatz ab oder das Leder wird nass und rissig. Mein letztes Paar Schuhe muss ich in Peters Zimmer vergessen haben oder sie sind aus dem Fenster gefallen, aus dem ich springen wollte, auf jeden Fall hatte ich, als mich Constanze in die Notaufnahme brachte, meine Schuhe nicht an."

Marie ist krank. Sie wird sterben. Und doch überleben. In einer Stadt, die sich verschiebt, in der Menschen und Häuser verschwinden, in der nach einem Augenschlag nichts mehr so ist, wie noch im Moment zuvor. In einer Stadt, in der sich die Menschen gegenseitig zuflüstern, nichts gehe endgültig verloren, alles tauche wieder auf.

Ihr Vater gab ihr den Spitznamen Zirkuskind. Nicht nur wegen der vielen Umzüge, sondern auch aufgrund ihrer inneren Unruhe. Sie ist neu in der Stadt. Sie liebt Peter. Oder Arndt. Jedenfalls mindere die Unsicherheit keinesfalls die Intensität des Gefühls.

Junges Figuren wandeln auf Irrwegen. Das Wiederzufindende sowie die Angst vor dem erneuten Verlust bestimmen ihren Rhythmus. Doch sind jene Irrwege letzten Endes auch Wege, die beschritten werden wollen, die Bewegung fordern und ankommen und fündig werden lassen. So finden die Städter andere, neue Dinge, die ihnen manchmal besser gefallen als die, die sie so stark zu vermissen glaubten. In einem Depot, in dem man nichts kaufen, aber alles mitnehmen kann, was einem fehlt, oder in einem Nobelhotel mit dem Namen Klee.

Hier verirrt Marie sich in eine Situation, die ihr viel abverlangt, sie jedoch mit der Aufgabe wachsen lässt. Aus einem Irrweg wird ein Umweg. Man geht nicht verloren. Es ist wie das Kreisen um die innere Mitte, das Werfen eines Steines. "Wenn er aufs Wasser trifft, bilden sich Ringe, die nach außen hin immer größer werden. Das ist die Stadt. In den Räumen zwischen den Ringen stehen Häuser. Sie stehen immer zwischen den Ringen, die sich mit jedem Steinwurf verändern. Der Mittelpunkt verschiebt sich, verstehst du? Die Fläche ist immer die gleiche. Aber die Mitte ist dort, wo der Stein auftrifft, ist der Punkt, um den herum sich die Ringe bilden. Der Stein trifft immer wieder an einer anderen Stelle auf. Die Ringe bilden sich neu, und die Stadt verschiebt sich. Verstehst du?"

"Eine schöne Geschichte" ist ein dramaturgisch komplexes, dichtes Gebilde, das des Lesers volle Aufmerksamkeit fordert. Die Form des Romans spiegelt die Irrungen und Wirrungen der Städter, zahlreiche Wiederholungen sind in den Text eingewoben und pointieren die durch die Erzählung rauschende Unsicherheit. Dabei werden Tempo und Spannung mit kurzen, präzisen Sätzen hoch und der Leser durch die Perspektive der lungenkranken Ich-Erzählerin in Atem gehalten.

Ricarda Junge, die zu ihrer Zeit eine der jüngsten Studentinnen des Leipziger Literaturinstituts war, verfügt über eine unprätentiöse und eindringliche Sprache, an einigen Stellen blitzt ihr poetisches Können auf und brennt wundersame Bilder in den Kopf des Lesers. Abgesehen von der grundlos-absurden Namensgebung der Hoteldame Fickeisen und den zwei kurzen Bettszenen, in welchen sie sich unnötig von ihrem sensiblen Stil entfernt, widmet sich Junge ihren Figuren mit der vom Sujet gebotenen Behutsamkeit.

Im letzten ihrer drei großen Erzählabschnitte, der mit "Flut" überschrieben ist, unterläuft der jungen Autorin jedoch eine grobe Unachtsamkeit: Sie lüftet die Metapher, formuliert aus, was der Leser bereits seit vielen Seiten erahnt. So schnell das Leitbild aufgelöst ist, so schnell verfliegt die paralysierende Wirkung des Romans. Von nun an liest er sich wie eine Geschichte mit ein- und vorgeschriebener Moral. Verblasst ist der Zauber des Namenlosen, verschwunden die Euphorie, Zeuge einer großen Erzählung geworden zu sein. Sie wird nicht wieder auftauchen.

Und dennoch: Es ist eine schöne Geschichte.


Titelbild

Ricarda Junge: Eine schöne Geschichte. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783100393289

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