Über den geglückten Moment

Thomas Hecken führt die Denkwelt der '68er vor

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Offensichtlich wird derzeit das Erbe von 1968 geklärt und die Frage beantwortet, wer damals schon auf der richtigen Seite stand und wer heute dazu die richtige Meinung hat. Ob dabei das Ereignis selbst, oder die Kette der Ereignisse, die in der Zusammenschau '68 ausmachen, verfälscht wird, ist nebensächlich, denn es gibt kein Phänomen, das nicht erst durch seine Interpretation kreiert werden musste - von seinen Kombattanten wie von denjenigen, die sich ihm aus der historischen Distanz nähern.

Gerade das aber macht die derzeitige Debatte so interessant, denn wenn auch kaum Zweifel daran bestehen mögen, dass in den späten 1960er-Jahren die Entformalisierung und Modernisierung der Gesellschaft einen entscheidenden, wenn auch nicht den entscheidenden Schub erfahren hat (Thomas Hecken, dem wir diese Darstellung der Denkwelt der '68er verdanken, räumt allerdings zumindest ein, dass es möglicherweise auch ohne '68er zu einer politischen Öffnung gekommen wäre), so ist die Entscheidung, wie das denn zu bewerten ist, immer noch nicht gefallen. 1968 als Ursprung alles Bösen der Gegenwart - oder verantwortlich für die Meinungs- und Wahlfreiheit, die wir heute haben?

Denkwürdigerweise legt Thomas Hecken einen begrifflichen Irrtum, seiner nun erschienenen Beschreibung des politischen und lebensweltlichen Lektürekosmos' der '68er zu Grunde: die Kontaminierung der "Liberalisierung" der Gesellschaft Ende der 1960er-Jahre mit dem "Neoliberalismus" der Gegenwart. Er attestiert eine Art Perversion der Begriffsverwendung: Die Reform-Rhetorik der letzten zehn Jahre überlagere die Reformforderung der späten 1960er-Jahre, die "Heuschrecken" des globalisierten Kapitalismus würden mit den Kommunarden und Politstudenten der späten 1960er-Jahre gleichgesetzt. Der (angebliche oder tatsächliche) Wunsch der einen, von jeglicher rechtlichen und politischen Reglementierung befreit zu werden, gerate auf die gleiche Höhe mit den Idealvorstellungen der Studentenbewegung nach einem befreiten und freien Leben. Eine wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Position, über die hier nicht gestritten werden soll, überlagere den politisierten Aktionismus der jungen akademischen Generation. Das sei, so Hecken, nur noch als Parodie von 1968 zu verstehen (wenn Hecken hier nicht seiner eigenen Rhetorik aufsitzt). Umso wichtiger sei es, nachzuarbeiten, was denn die '68er (wer immer das denn sei) wirklich gedacht und gelesen hätten, um sie umso deutlicher von den neoliberalen Reformapologeten der Gegenwart abgrenzen zu können. Hecken stellt sich also dezidiert gegen die Zeitgenossen - ein immerhin gewagtes, wenngleich nachvollziehbares Unterfangen.

Nun wird wohl niemand wirklich annehmen, dass es eine direkte Verbindung zwischen beiden Positionen und Haltungen gebe. Auch wenn es einige ehemalige Kombattanten gibt, die sich seitdem in den vier Jahrzehnten politisch verlaufen haben (Horst Mahler ist einer von ihnen), haben die Repräsentanten dieser Jahre, wenn sie nicht mit der Pflege des eigenen Ruhms beschäftigt waren, doch kräftig daran mitgewirkt, dass diese Republik sich seitdem gewandelt hat und sich trotz Rollback und Neokonservativismus zu einem offenen und liberalen (keineswegs eben neoliberalen) System entwickelt hat. Man mag nicht damit zufrieden sein, aber was Besseres ist eben nicht draus geworden. Und was noch dran zu tun wäre, kann eben von anderen geregelt werden. Aber das nur nebenbei.

Hecken, der bereits mit mehreren informativen Studien zum Feld hervorgetreten ist, rekonstruiert in diesem Band das Denksystem der '68er knapp und instruktiv. Dabei trennt er sein Untersuchungsfeld in die politisch-ökonomische Kritik und die lebensreformerischen Ansätze, die beide mit der Studentenbewegung verbunden werden.

Dabei macht der Autor deutlich, dass die Neue Linke sich nicht nur durch die Jugend ihrer Repräsentanten, sondern eben auch durch theoretisch und konzeptionell zentrale Elemente von der alten Linken unterscheidet. Sie sucht nach dem Verlust des Proletariats nach einem anderen revolutionären Subjekt und findet es in der befreiten Persönlichkeit. Die Provokation des etablierten Systems gehört zu ihren wichtigsten Instrumenten, die freilich nach dem Sommer 1968 an Wirkung verlor. Auch wenn die Revolutionierung der Gesellschaft für die Neue Linke einen zentralen Platz einnimmt, ist ihr Konzept faktisch weniger auf die Neuorganisation der Gesellschaft in einer postrevolutionären Situation ausgerichtet, sondern auf die Institutionalisierung von befreiten Nischenräumen. Die Funktion des Entfremdungs-Topos zeigt dies an, verweist er doch letztlich auf die Unmöglichkeit einer zwangfreien Existenz in der industriellen Massengesellschaft. Die Befreiung der Sexualität, die Entformalisierung der Gesellschaft, die Attacke auf das Establishment und auf die Konditionen des Arbeitslebens lassen sich aber zugleich in eine generelle Öffnung der Gesellschaft integrieren, was den '68er nicht zuletzt auch den Vorwurf eingetragen hat, sie hätten den Umbau der "formierten Gesellschaft" in die industrielle Massengesellschaft mit vorangetrieben. Die Wahlfreiheit und der Wunsch nach dem geglückten Augenblick sei zu dem Vermögen verkommen, zwischen unterschiedlichen Waren und deren Glücksversprechen zu wählen - ein Vorwurf im Übrigen schon der Zeitgenossen insbesondere gegen die unpolitischen Fraktionen der Bewegung.

In der Zweiteilung zwischen Polit- und Lebensreform zeigt sich in der Tat auch die Teilung der Bewegung, auch wenn sich die Diskurse überlagerten. Als theoretische Referenzen konnten Herbert Marcuse wie Wilhelm Reich gleichermaßen und von denselben Akteuren in Anspruch genommen werden, mussten aber nicht. Hinzu kommt, dass die '68er vielleicht als einer der heißen Kerne der gesellschaftlichen Veränderung gesehen werden sollten, sie aber von einem weiten Feld von Akteuren mit divergierenden Interessen und Strategien umgeben sind, die die Gesellschaft als Ganzes veränderten. Damit ließe sich auch die Frage danach beantworten, in welchem Maße die '68er für das, was danach kam, verantwortlich zu machen sind. Auch wird erkennbar, welche Qualität die Verbindung zwischen politischer und lebensweltlicher Reform hat. Hecken konzentriert sie, wenn man es genau nimmt, auf den Wunsch nach einem erfüllten Leben jenseits des gesellschaftlichen Apparats. Das weist auch dem politischen Teil der '68er einen stark utopistischen Zug zu, durch den die revolutionäre Rhetorik sich auf die Forcierung der aktionistischen Teile konzentrierte, um genau diese wiederholbar zu machen. Im aktionistischen Moment wird der Vorschein eines Lebens in einer befreiten Gesellschaft erkennbar, ein Motiv im Übrigen, das auch in der sozialistischen Literatur der frühen 1930er- und 1950er-Jahre erkennbar wird: Das proletarische respektive revolutionäre Subjekt findet im Kampf zu seinem befreiten Selbst. Kein Wunder, dass die Aktionen wie Drogen wirkten, eine solche Revolution kann man wirklich geliebt haben (um einen alten Cohn-Bendit-Titel hier zu paraphrasieren). Aber in diesem Sinne waren die politischen Vorstellungen der '68er in der Tat nicht anschlussfähig, wie Niklas Luhmann konstatiert hat.

Die Aufsplitterung der Bewegung in viele kleine, neoleninistische, maoistische und halbwegs stalinistische Splittergruppen nach dem Sommer 1968 einerseits ("Wir warn die stärkste der Parteien", ein erbärmliches Schicksal) und in die Neue Subjektivität andererseits (Bauchnabel lässt grüßen, auch nicht besser) ist daraus immerhin einigermaßen schlüssig erklärbar. Hecken allerdings erledigt gleich noch eine weitere Aufgabe, nämlich die Gewalt-Absolution der '68er (die immer noch notwendig zu sein scheint). Zurecht weist er darauf hin, dass der linke Terrorismus eine Extremerscheinung ist, die erst nach der Bewegung entsteht und zu dem es nur wenige persönliche Kontakte und kaum politisch oder theoretisch funktionierende Ableitungen gab. In den Lektüren und Schriften der '68er selbst ist die terroristische Gewalt keine sinnvolle Option. Der "terreur" ist kein Instrument der '68er. Der Umstand, dass sich das Gründungsmanifest der RAF in einem abgelegenen Szeneblatt wie "Agit883" findet und nicht in einer massenhaft verbreiteten Schrift, bestätigt diese These.


Titelbild

Thomas Hecken: 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
180 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783899427417

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