Achtung Achtundsechziger!

Albrecht von Lucke fasst die '68er-Diskussion zusammen und räumt mit rückwärts gewandten Meinungsmachern auf

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn es eine Phrase ist: ein Gespenst geht um im Feuilleton. Das Gespenst von "den" Achtundsechzigern. Albrecht von Luckes 90-seitige Abhandlung "68 oder neues Biedermeier" erscheint - wie zahlreiche Bücher zum Thema - im 40. Jubiläumsjahr der Studentenrevolte. Sie zeichnet die Debatten über diesen bedeutsamen Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte nach.

Lucke (Jahrgang 1967) beschreibt, wie sich die '68er von 1967 bis 1977 als politisches (und mediales) Subjekt erfinden und wie die Linke ihre Einheit angesichts des RAF-Terrors auf's Spiel gesetzt sieht. In der Phase von 1978 bis 2005 besetzten Vertreter der Bewegung einträgliche Posten, landeten bei den Grünen und in der Regierung. Das gilt den einen als Verrat und den anderen als realpolitische Erfüllung der alten Ideen - Stoff für Kontroversen in den Kategorien von '68.

Nach dem Ende der rot-grünen Koalition unter Kanzler Schröder geben die "Nach-68er" den Ton an - für Lucke "die vielleicht größte Chance zur Revanche für all jene, die in den vergangenen Jahrzehnten intellektuell und diskursiv zumeist unterlegen waren".

So sieht der Politikwissenschaftler seit der Diskussion über die SS-Mitgliedschaft von Günter Grass die Vertreter einer "neuen Bürgerlichkeit" am Werk - "eine generationsübergreifende Allianz - von 'FAZ'-Herausgeber Frank Schirrmacher über den ehemaligen 'Spiegel'-Kulturchef Matthias Matussek, 'Welt am Sonntag'-Chefredakteur Christoph Keese, 'Bild'-Chefredakteur Kai Diekmann und 'Zeit'-Feuilletonchef Jens Jessen bis hin zum ehemaligen BDI-Chef Hans-Olaf Henkel, Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio und dem Historiker Arnulf Baring". Diese und andere Meinungsmacher zitiert Lucke ausgiebig - und grenzt sich mit viel Gespür für den politischen Gegner von ihnen ab.

Klar heraus kommt in diesem Buch eines: Zu kurz greifen Lesarten, die die '68er für alle Übel des Landes verantwortlich machen, nur aus dem Blickwinkel der RAF verstehen oder eine Kontinuität zwischen 1933 und 1968 herstellen. Nach Lucke haben solche Positionen ein Ziel: die Rehabilitierung der Werte der 1950er-Jahre. Adenauer-Romantik also anstatt demokratischem Aufbruch.

Und mehr noch vermutet Lucke: Wie nach der gescheiterten Revolution von 1848 wende sich das Bürgertum von den Idealen der Aufklärung ab. Der elitäre und individualistische Bourgeois spiele sich in den Vordergrund und will die alte Klassengesellschaft zurück.

'1968' ist für Lucke folglich nicht nur ein Medien-Thema für Publizisten, Lobbyisten und Politiker, um gut da zu stehen, eine hohe Auflage zu erreichen oder eine Pointe zu setzen. Im Kern geht es um die erst mit den '68ern angestoßene Demokratisierung der Gesellschaft. Sie zu verteidigen ist für den Autor ein wichtiges Projekt. Denn: "Angesichts der gewaltigen ökologischen, sozialen und politischen Herausforderungen der Gegenwart ist es längst wieder an der Zeit, der Republik mit demokratischem Engagement Beine zu machen." Welche Akteure diese Rolle übernehmen sollten - Polit-Egomanen oder ernsthafte Initiativen - und mit welchen diskursiven Werkzeugen sie ausgestattet sein sollten, bleibt in diesem Buch offen.


Titelbild

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
90 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783803125828

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