Das poetische Endoskop

Über Durs Grünbeins Aufsatzsammlung "Gedicht und Geheimnis"

Von Konrad LeistikowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konrad Leistikow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man stelle sich vor, es gäbe ein Denken, das an bestimmte, sonst nur schwer zugängliche Stellen kommt, wie Zahnseide zwischen die hinteren Backenzähne oder ein Endoskop in den Magen. [...] Dieses Denken ist das poetische Denken", schreibt Durs Grünbein in seinem Aufsatz "Das Gedicht und sein Geheimnis" und führt zugleich vor, wie das funktioniert. Sechzehn weitere Aufsätze des Dichters aus den Jahren von 1990 bis 2006 sowie eine autobiografische Notiz versammelt der vorliegende Band. Die grundlegende Annahme, dass die poetische Sprache den Bereich des Sagbaren (und damit des Denkbaren) erweitert, indem sie auch in die dunkle Sphäre des Unbewussten vordringt, durchzieht alle diese Texte.

Durs Grünbein macht die Poesie zu einer Entdeckerdisziplin: Das poetische Denken kann verkrustete Strukturen aufbrechen und neue Perspektiven eröffnen, ja, völlig neue Gedanken hervorbringen. Den Dichter sieht er als einen Forschungsreisenden, einen Kolumbus des Geistes, der neue Kontinente in unserer gemeinsamen Vorstellungswelt erobert. Im Unterschied zur Philosophie sei Anschaulichkeit die "Kardinaltugend" der Dichtkunst: Während die Philosophen seit Platon die Manipulation des Stils durch den Gedankengang unterschlügen, könnten Dichter den metaphorischen Bedeutungsreichtum der Sprache bewusst einsetzen und bewahren.

Nun ist Durs Grünbein selbst ein Dichter, und seine eigene hochartifizielle Gedankenlyrik ist nicht immer mit Anschaulichkeit gesegnet. Manchmal muss der (vielleicht anschauliche) Grundgedanke erst unter einem Berg von gelehrten Anspielungen hervorgezerrt werden. Allerdings meint Anschaulichkeit hier auch eine gewisse Gegenständlichkeit der Themen, die in Grünbeins anatomischen Studien unbestreitbar von Anfang an Programm war.

Seinem essayistischen Stil verleiht das poetische Denken jedenfalls eine wohltuende Anschaulichkeit, die immer wieder zu überraschenden Einsichten führt - ganz im Sinne des Wittgenstein-Wortes "Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand". Zugleich sind seine Formulierungen von erstaunlicher Präzision. Selbst Variationen mit Wiederholungscharakter führen nie zur Stagnation des Gedankenflusses, sondern fördern im steten Umkreisen zentraler Ideen immer neue Aspekte zutage.

Interessant zu beobachten ist die Veränderung der Terminologie: In der berühmten Büchner-Preis-Rede "Den Körper zerbrechen" (1995) und der frühen, vielzitierten Programmschrift "Mein babylonisches Hirn" (1996) dominieren noch die naturwissenschaftlichen Bezugnahmen, hier ist das Gedicht noch ein "Vexierbild physiologischen Ursprungs", liegt in der Neurologie noch "die Poetik der Zukunft versteckt". Später treten geisteswissenschaftliche Erklärungsansätze in den Vordergrund, wird die Verwandtschaft von Poesie und Musik betont: Im titelgebenden Aufsatz "Das Gedicht und sein Geheimnis" (2005) beschreibt Grünbein Gedichte als "Partituren zur Stimulation psychischer Wechselbäder", und in dem Beitrag "Betonte Zeit" (2005) wird der poetische Text gar zum "Tonsatz im Wartestand" - als harrten die Wörter gleichsam nur ihres musikalischen Vortrags.

Dennoch bleibt Grünbein ein universeller Denker, sein Blick synthetisierend. Meist bezieht er die Vielfalt der Disziplinen in seine Betrachtungen ein und stellt Zusammenhänge her, die die künstlichen Gräben zwischen den Wissenschaften überbrücken und als unnötig entlarven. Es macht Spaß, mit dem poetischen Endoskop zu denken und so die ausgetretenen Pfade der Geschichte zu verlassen. Man erfährt dabei keinesfalls nur etwas über die Poesie; diese Aufsätze sind hochinteressante Reflexionen unserer gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungsbilder. Dass Grünbein dabei manchmal an Friedrich Nietzsche erinnert und sich auch explizit auf ihn beruft, schmälert den Wert seiner Worte keineswegs. In der souveränen Aneignung der historischen Vorbilder bewahrt er sich stets eine unaufdringliche Eigenständigkeit.

Bleibt noch die Frage: Wird das Geheimnis gelüftet? Kann Durs Grünbein die rätselhafte Wirkung von Gedichten erklären? Da diese Frage, die den Bereich des subjektiven Erlebens betrifft, nur mit "Nein" beantwortet werden kann, darf man Grünbeins Fazit vorwegnehmen, ohne ein Spielverderber zu sein. Während er in "Mein babylonisches Hirn" das Gedicht noch als eine "Folge physiologischer Kurzschlüsse" zu fassen versuchte, gelangt er zehn Jahre später zu der resignativ anmutenden Einsicht: "Das ganze Gerede vom Geheimnis der Gedichte umkreist immer nur einen Blinden Fleck."

Unbefriedigend? Vielleicht. Allerdings stellt Grünbein eine anregende Vermutung über die Motivation aller Dichtung auf, darüber, "was die Konsistenz ihres Geheimnisses ausmacht: eine Mischung aus Diesseitsliebe und Neugier auf Metaphysik". Es gibt noch viel zu entdecken.


Titelbild

Durs Grünbein: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990-2006.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
190 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783518458907

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