"Volksgemeinschaft" und Gewalt

Michael Wildts grundlegende Einführung in die 'Geschichte des Nationalsozialismus'

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Reorganisation des Universitätsstudiums, wie sie seit dem Bologna-Prozess vorangetrieben wird, und die damit einhergehende Wendung zur Vermittlung von Überblickswissen haben in den Geschichtswissenschaften eine neue Spezies Literatur entstehen lassen. Überall werden neue Reihen aus dem Boden gestampft, die auf problemorientierte Einführungen in Theorien, Begriffe, Methoden und historische Einzelepochen abzielen.

Vor wenigen Jahren hat auch der traditionsreiche Verlag Vandenhoeck & Ruprecht eine Paperback-Reihe mit dem Titel "Grundkurs Neue Geschichte" konzipiert, die Geschichtsdozenten und -studenten einen Einstieg ins jeweilige Thema eröffnen und als Grundlage für ihre Arbeit im Seminar dienen soll. Die bisher vorliegenden Bände umfassen 200-250 Seiten, ihr wissenschaftlicher Apparat beschränkt sich auf wenige Fußnoten sowie ein weiterführendes Quellen- und Literaturverzeichnis. Ergänzende Materialien sind einer eigens eingerichteten Internet-Präsentation zu entnehmen. Die Computer-Gesellschaft schickt sich also an, auch die traditionell eher konservative Geschichtswissenschaft nachdrücklich zu verändern.

Im Mittelpunkt jener neuen Reihen, die den veränderten Anforderungen an das Geschichtsstudium Rechnung tragen sollen, steht die Notwendigkeit zur didaktischen Reduktion. Jeder Historiker, der sich diesem Wagnis unterzieht, muss die Charybdis gängiger fachwissenschaftlicher Komplexität vermeiden, ohne in die Scylla der Trivialisierung abzustürzen. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist eines der besterforschten historischen Themen überhaupt, was ein solches Unterfangen fast schon unmöglich macht. Eine einschlägige Bibliografie, die vor acht Jahren erschien, weist fast 40.000 Titel aus, und mittlerweile sind Tausende neuer Monografien und Aufsätze hinzugekommen. In diesem Dickicht an Literatur Schneisen zu schlagen und neue Erkenntnisse oder gar Interpretationen anzubieten, erfordert schon eine gewisse Meisterschaft.

Michael Wildt, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat sich der undankbaren Aufgabe unterzogen die Geschichte des Nationalsozialismus' von 1919 bis 1945 auf knapp 200 Seiten abzuhandeln, und herausgekommen ist eine ungemein präzise und kompakte Monografie, die Maßstäbe setzt. Dies liegt nicht so sehr an der Art und Weise der Darstellung, die eher konventionell bleibt und die bekannten Themen der NS-Geschichte größtenteils chronologisch-narrativ abhandelt, wie von einer Einführung auch nicht anders zu erwarten ist. Vielmehr gelingt es Wildt, ein innovatives Grundgerüst zu entwickeln und es analytisch auch durchzuhalten. Den roten Faden der Darstellung bilden die beiden Begriffe "Volksgemeinschaft" und Gewalt, die er nicht essentialistisch definiert, sondern als Kristallisationspunkte einer spezifisch nationalsozialistischen Praxis begreift. Wildt zeigt, wie "Volksgemeinschaft" seit dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich zu einem regelrechten Zauberwort avancierte. Die bürgerlichen und liberalen Parteien erhofften sich von einer künftigen "Volksgemeinschaft" die Überwindung der Klassengesellschaft, für die Sozialdemokraten war sie eine Formel zur Integration der Arbeiter. Im Gegensatz dazu verstanden die Nationalsozialisten unter "Volksgemeinschaft" eine Gesellschaftsformation, zu der per definitionem weder Juden noch andere "Minderwertige" gehörten. Ihre "Volksgemeinschaft" zielte auf Exklusion ab, und deren zentrales Mittel bildete körperliche Gewalt.

Wildt nähert sich seinem Thema in drei quantitativ gleichgewichtigen Kapiteln, in denen er die Geschichte der NSDAP bis zur Eroberung der Macht, den Aufbau der "Volksgemeinschaft" nach 1933 und die Eskalation von Terror und Gewalt seit dem Angriff auf Polen im September 1939 behandelt. Von ihren Anfängen in den Münchner Bierkellern bis zum Wahlmarathon des Jahres 1932 schildert er Ursachen, Verlauf und Folgen des Aufstiegs der NSDAP zur Massenpartei. In einem präzisen Exkurs zu den Wählern und Mitgliedern, in dem die einschlägige Forschung übersichtlich und auf wenige Thesen verdichtet zusammengefasst wird, legt Wildt dar, wie sich die NSDAP zur ersten klassenübergreifend mobilisierenden Partei in der deutschen Geschichte entwickelte, deren Stimmenzuwächse vor allen Dingen aus dem rechtbürgerlichen, protestantischen Milieu und aus dem Lager der Nichtwähler kamen. Im Unterschied zu bisherigen Interpretationen, die dem Antisemitismus für die Wahlpropaganda der NSDAP eher einen untergeordneten Stellenwert einräumen, zeigt der Autor, dass davon keine Rede sein kann. Der "Antisemitismus der Tat", also die Gewalt gegen Juden, war lange vor 1933 eine Konstante in der politischen Praxis der NSDAP gewesen und trug maßgeblich zur Mobilisierung von Wählern aus den Mittelschichten bei.

Im Kapitel "Volksgemeinschaft" zeichnet Wildt die wichtigsten Stationen der NS-Machtergreifung der Jahre 1933/34 nach, die er zu Recht als "Revolution" klassifiziert. Danach skizziert er die Integration verschiedener sozialer Gruppen, etwa der Arbeiter, Frauen und Jugendlichen, in die NS-"Volksgemeinschaft". Wildt macht deutlich, dass diese mit der bewussten Exklusion so genannter Gemeinschaftsfremder, also Juden, "Asozialer", geistig Behinderter und Oppositioneller, einherging. Im Kapitel "Krieg" schließlich widmet sich der Autor der NS-Außenpolitik und der 1938/39 einsetzenden militärischen Expansion. Im Zentrum steht der Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden, den Wildt größtenteils als bürokratischen Prozess beschreibt, dem eine explizite Vernichtungsabsicht zugrunde lag und der durch regionale und lokale Tötungsinitiativen maßgeblich vorangetrieben wurde. Zudem analysiert der Autor die Eskalation der Gewalt, die im Verlauf der Rekrutierung von Millionen ausländischer Zwangsarbeiter eintrat, und schildert den Zusammenbruch der "Heimatfront" im alliierten Bombenkrieg. Wildt schließt mit einem Ausblick auf das Nachwirken der "Volksgemeinschaft" nach dem 8. Mai 1945, die er im Anschluss an Saul K. Padovers und Hannah Arendts frühe Interpretationen in der Selbstviktimisierung und der manischen Geschäftigkeit der deutschen Bevölkerung beim Wiederaufbau sieht.

Von den bisherigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Nationalsozialismus unterscheidet sich Wildt auf zweierlei Art und Weise. Zum einen werden dessen Erfolge nicht an den realen persönlichen Qualitäten Hitlers festgemacht, sondern an den Erwartungen, die ein Großteil der Bevölkerung auf den "Führer" projizierte. Zum anderen sieht Wildt im Antisemitismus und im Holocaust die Dreh- und Angelpunkte des Nationalsozialismus und folgt damit einer Einsicht, wie sie seit Mitte der 1940er-Jahre am vehementesten von Theodor W. Adorno verfochten worden ist. Beide Umstellungen spiegeln die Entwicklung der neueren NS-Forschung wider, in der die Verantwortung für die politische Praxis des NS-Staates als gesamtgesellschaftliches Phänomen behandelt wird. Damit rückt der Autor die Loyalitätsbedingungen und die sozialen Bindekräfte des NS-Regimes in den Vordergrund, ohne dabei Terror und Gewalt gegen dessen so genannte objektive Gegner aus den Augen zu verlieren. Seine konzise, glänzend geschriebene Synthese sollte für alle Geschichtsstudenten, aber auch für die vielen Multiplikatoren in Bildung und Weiterbildung zur Pflichtlektüre werden.


Titelbild

Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2008.
219 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783825229146

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