Deutsche Massenerschießungen in Lettland

Andrej Angrick und Peter Klein schildern den Ablauf der "Endlösung" in Riga minuziös

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer umfangreicher werden die Kennntnisse über die Details der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Ländern Osteuropas, die in besonderer Weise die Schrecken des deutschen Vernichtungswillens zu ertragen hatten. Was in den Ghettos und Vernichtungslagern in Polen oder den baltischen Sowjetrepubliken geschah, war dabei zunächst nur von den Überlebenden bezeugt worden.

Es mag dies, darauf weisen die Autoren der vorliegenden Studie einleitend hin, ein Grund auch dafür gewesen sein, dass die Forschung sich diesem Themenbereich lange nur zögernd näherte: die Zeitzeugenschaft der wenigen Überlebenden gab ein deutliches Zeugnis ab, das einstweilen auch als 'Erklärung' taugen konnte. Hinzu kam, dass während der Zeit der zweigeteilten Welt nach dem Krieg, viele Dokumente, die in den sozialistischen Ländern lagen, nicht oder nur schwer einsehbar waren. Dieser beträchtliche Forschungsfundus, der nur in Ausnahmefällen, etwa bei wenigen Strafverfahren gegen NS-Täter, offen war, steht freilich seit Beginn der 90er-Jahre zur Verfügung.

Nun begibt sich eine neue Generation von Historikern, oftmals in internationaler Konstellation, daran, die Geschehnisse systematisch aufzuarbeiten. Es zeigt sich dann im Übrigen auch, welche fundamentale Bedeutung die Zeitzeugenberichte nach wie vor haben. Sie machen erst das tatsächliche menschliche Leid anschaulich, das durch die bloße Rekonstruktion der Fakten und Ereignisse kaum fassbar wird. Wie wichtig dieser Aspekt ist, wird deutlich, wenn man die Gerichtsaussagen der Beteiligten als Angeklagte oder Zeugen als Quellenmaterial liest, so wie hier die Aussagen zum Ablauf der Massenerschießungen in Bikernieki oder im Wald von Rumbula nahe Riga. Erschüttert registriert man immer wieder technokratische Kühle, mit der die Mörder den Ablauf des Mordens beschreiben. Die Berichte sind bemüht, die Logik der 'Effektivität' der Erschießung von Tausenden von Menschen zu beschreiben. Das eigene Tun erscheint in der Selbstwahrnehmng der Täter als 'hart' - aber auch als unausweichlich, da es zur 'Pflichterfüllung' erforderlich gewesen sei. Erst durch die Aussagen und Erinnerungen der überlebenden Zeitzeugen ergibt sich ein wahrhaftiges Bild der schrecklichen Wirklichkeit.

Andrej Angrick und Peter Klein legen nun eine umfassende Darstellung der "Endlösung" in Riga vor. Sie leiten ihre Darstellung ein mit einer kurzen Beschreibung der Situation in "Lettland zwischen den Diktaturen". Gemeint ist die kurze Phase staatlicher Eigenständigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, die 1920 im ,Vertrag von Riga' auch von der Sowjetunion anerkannt worden war. Im Zentrum ihrer Darstellung steht die unheilvolle Entwicklung eines lettischen Nationalismus, der sich durch einen vehementen Antikomunismus sowie einen radikalen Antisemitismus auszeichnete. Diese Kräfte wurden nach dem Einmarsch der Deutschen in Lettland zu willfährigen Verbündeten der Deutschen. Führer wie der radikale Antisemit Viktor Arajas wurden zu bereitwilligen Helfershelfern der Mordaktionen. Ihre 'spontanen' Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung dienten den Deutschen als willkommene und auch propagandistisch nutzbare Rechtfertigung eigener Absichten.

Eine besondere Eskalation der Ereignisse in Riga verband sich mit dem Höheren SS- und Polizeiführer in Riga, Friedrich Jeckeln. Jeckeln, der bereits an den Ermordungen von Juden im Spätsommer 1941 in der Ukraine (Baby Jar) beteiligt war, trat für eine "gnadenlose Vernichtungspolitik" ein. Die Erschießungen von über 25.000 Bewohnern des Rigaer Ghettos im Wald von Rumbula im Winter 1941, bei denen auch 1.000 deutsche Juden, die mit dem ersten Deportationszug aus Berlin zum Zeitpunkt der Erschießungen in Riga ankamen, ermordet wurden, erregten das Missfallen konkurrierender NS-Stellen, denen zunächst an einer planmäßigen Ausnutzung der Juden für Arbeitseinsätze gelegen war. Die Autoren legen dar, dass dieses Missfallen sich nicht grundsätzlich gegen die Tötungsaktionen richtete, sondern zuvörderst Jeckelns unabgesprochene Eigenmächtigkeiten betraf, die die Planer der "Endlösung" vor vollendete Tatsachen stellte.

Die "mörderischen Verbrechen an zehntausenden einheimischen und verschleppten Juden [...] in der lettischen Hauptstadt Riga", so resümieren die Autoren in einer Schlussbetrachtung, "bildeten lediglich einen Teil der 'Endlösung der Judenfrage' im von den Deutschen besetzten Europa". Die umfangreiche Aufarbeitung dieses Teils macht das Ganze verständlicher. Dies ist den Autoren mit dem vorliegenden Band gelungen.


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Andrej Angrick / Peter Klein: Die "Endlösung" im Ghetto Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
520 Seiten, 74,90 EUR.
ISBN-10: 3534191498
ISBN-13: 9783534191499

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