Der Nazi-Krieg als Ursache der Vertreibung

Conrad Taler zu historischen Kausalitäten und zu Vertriebenenverbänden

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gut sechzig Jahre nach Kriegsende sind Nazi-Diktatur, Krieg und Vertreibung medial so präsent wie selten zuvor; seit einem guten Jahrfünft mit einem neu-alten, unerfreulichen Akzent. Als befände man sich wieder in den Adenauer-Jahren der Bundesrepublik, steht das Leid von Deutschen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Bombenkrieg und Vertreibung dienen der Begründung des ersehnten Opferstatus, der die Deutschen im Extremfall den von ihnen verfolgten Juden gleichsetzen soll. Man musste, im Tausch gegen das nationale Gedenken in der Berliner Neuen Wache, ein Holocaust-Mahnmal in Kauf nehmen? Dann aber her mit einem Vertriebenen-Mahnmal, damit die Rechnung wieder stimmt!

Dabei stellt niemand in Abrede, wie viele Deutsche, darunter auch solche, die keine Schuld an faschistischen Verbrechen trugen, auf der Flucht gelitten haben und wie sehr manche von ihnen der Verlust der Heimat schmerzt. Conrad Taler kann hier auf eigene Erfahrungen verweisen: Seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1945/46, die ihn als achtzehnjährigen Kriegsheimkehrer in seine sudetendeutsche Heimat zeigen und dann Hunger, Zwangarbeit und erzwungene Ausreise nach Bayern schildern, belegen dies. Umso mehr empört ihn, wie in der Bundesrepublik Funktionäre von Vertriebenenverbänden, in denen sich tatsächlich nur eine Minderheit der Flüchtlinge sammelte, die Ereignisse für eine revisionistische Politik instrumentalisieren. Er folgt nicht ihrer kruden Logik, dass eben alle irgendwie Verbrecher seien, besonders aber die Tschechen; und dass, da nunmal die von den Nazis Ermordeten unwiderruflich tot sind, nun wenigstens die vertriebenen Deutschen ihre Häuser und Grundstücke wieder in Besitz nehmen müssten.

Der Gleichsetzung hält Taler eine einfache Kausalität entgegen: Eine große Mehrheit der Sudetendeutschen hat sich freiwillig auf die Seite der Nazis gestellt. Die erste Vertreibung fand 1938 statt, nachdem die Westmächte im Münchner Abkommen die Grenzregionen der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich ausgeliefert hatten: Viele der 800.000 Tschechen, die in dem Gebiet wohnten, wurden "ausgesiedelt", Zehntausende von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten flohen. Allein ins KZ Dachau kamen 2.500 Menschen, meist Linke. Zahlreiche Protagonisten der nazitreuen sudentendeutschen Bewegung spielten führende Rollen beim Besatzungsregime im "Reichsprotektorat" Böhmen und Mähren und an der Seite der slowakischen Marionettenregierung.

Mehr noch: Zum großen Teil waren es die Verantwortlichen für diese Verbrechen, die nach 1945 die Politik der Vertriebenenverbände bestimmten. In jüngerer Zeit hat Erich Später eindrücklich die Kontinuität von Nazi-Elite und Vertriebenenfunktionären herausgearbeitet. Bereits 1962 zeigte Taler in einer Broschüre auf, in welchem Maße der sudentendeutsch orientierte Witiko-Bund von NS-Tätern dominiert war. Es handelt sich hier um keine Massenorganisation, sondern um einen relativ kleinen Verband - 1959 hatte er nur 634 Mitglieder, von denen lediglich etwa 30 nicht in der NSDAP oder in ihrem Umfeld aktiv gewesen waren. Diese Ausgewählten nahmen allerdings Schlüsselpositionen in Vertriebenenverbänden, Medien, Parteien und Politik ein. Unter ihnen fanden sich im Jahr 1962 Minister und Staatsekretäre in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen sowie mehrere Landstagsabgeordnete.

Mehrere Jahrzehnte trennen diese Recherchen von der systematischen Lektüre der Zeitschrift "Riesengebirgsheimat" in den Jahren 2005 und 2006. Man sollte derartige Blättchen nicht unterschätzen, erreichen sie doch immer noch mehr Leser als manch fortschrittliches Magazin. Taler findet in der "Riesengebirgsheimat" manche Zeichen von Heimatliebe, die auch ihn ansprechen, vor allem jedoch eine revanchistische Hetze, die bis in einzelne Wendungen hinein die Rhetorik Konrad Henleins und Hans Franks aufgreift, die als die wichtigsten sudetendeutschen Funktionäre an NS-Verbrechen beteiligt waren.

So steht Talers Buch als wichtiges Korrektiv den unerfreulichen erinnerungspolitischen Tendenzen der jüngsten Zeit entgegen. Allerdings sind auch einige Schwächen der Textsammlung zu benennen. So ist die Witiko-Broschüre von 1962 "nahezu unverändert wiedergegeben". Fußnoten informierten die Leser damals über Abkürzungen und Personen, die nicht mehr allgemein geläufig waren. Für den Kontext der neuerlichen Veröffentlichung wären weitere Erläuterungen hilfreich gewesen; etliche Verbände und Personen, deren Bedeutung und Ausrichtung die Leser vor fast einem halben Jahrhundert kannten, müssten heute vorgestellt werden. Man erfährt auch nichts über die aktuelle Bedeutung und Ausrichtung des Witiko-Bunds, der sich eher radikalisiert, dabei jedoch freilich auch an Einflussmöglichkeiten verloren hat.

Dem viel neueren Text zur "Riesengebirgsheimat" hätten einige zusätzliche Informationen genützt. Welche Auflage hat das Blatt, von wem wird es gelesen, von wem finanziert? Wie ist es im Vergleich zu anderen Publikationen der Berufsvertriebenen zu verorten? Wer kontrolliert, wem das Wort erteilt wird und wem nicht? Solche Angaben oder wenigstens ein Vermerk, welche Angaben eben nicht zu erhalten waren, hätten es erleichtert, das Gewicht der Befunde am Text abzuschätzen. Ein "Offener Brief" an den Bundesvorsitzenden der "Sudetendeutschen Landsmannschaft" aus dem Jahr 2006 ist mit wünschenswerter politischer Klarheit formuliert - nur wäre für die Leser des Buchs ein Hinweis auf die Rolle dieses Hans Posselt in der CSU hilfreich gewesen.

Es ist schwierig, die Tagebuchaufzeichnungen und literarischen Versuche Talers, die einen breiten Raum einnehmen, zu werten. Hier zeigt sich ein langer Weg zum Gekonnteren: Die Aufzeichnungen von der letzten Reise in die frühere Heimat im Jahr 1993 sind sehr viel besser geraten als das Tagebuch des Achtzehn- bis Zwanzigjährigen, das in den Naturschilderungen und insbesondere im Rückblick auf den Krieg manchen metaphorischen Fehlgriff enthält. "Kichernd und heulend rast der Tod durch die Häuserschluchten", ein "wahnsinniger Totentanz" mündet in eine "Sinfonie der Todes". Solchen spätexpressionistischen Unfällen kontrastiert Verklärung. So stellt sich Taler einen toten Jugendfreund so vor: "Durch den Kopf ging Dir die Kugel, und Deine Jungenlocken färbten sich dunkel vom Blut."

Anders als manch andere Dichter, die so den Krieg schönschrieben, weiß Taler allerdings, die Opfer im Krieg wirklich aussehen: So ist die Rede von einem Verwundeten, "unter dessen buschigem Schnurrbart statt Mund und Kinn nur ein Fetzen blutigen Fleisches zu sehen ist". Das Tagebuch, gerade in seinen Mängeln, markiert deshalb den bemerkenswerten Versuch, mit vermutlich auf dem Gymnasium erlernten alten sprachlichen Mustern etwas Neues zu gestalten. In der Dissonanz von Beobachtetem und den sprachlichen Mitteln der Beobachtung zeigt sich so eine Zwischenstellung, die der politischen Intention des Buches entspricht: Heimatliebe zu formulieren, die Vertreibung als Verlust zu benennen, ohne dabei den nur mühsam getarnten Nazis als den Vertretern des organisierten Rachedenkens zuzuarbeiten.

Talers Ablehnung dieses reaktionären Programms ist umso überzeugender, als er selbst unter Hunger, Verlust der Heimat und Vertreibung gelitten hat. Man sollte nicht vergessen, dass es die Nazis und nicht die Tschechen waren, die zuerst zur Gewalt griffen, und dass fünfmal so viele Sudentendeutsche im von Deutschland herbeigeführten Krieg umkamen wie bei der Vertreibung, die nur Folge dieses Krieges war. Dies zu verdeutlichen, ist das Verdienst, das das Buch trotz seiner Mängel hat.


Titelbild

Conrad Taler: Verstaubte Kulisse Heimat. Über die Kausalität von Krieg und Vertreibung.
PapyRossa Verlag, Köln 2007.
234 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783894383763

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