Enttäuschender Versuch

Einige Bemerkungen zum "Handbuch der völkischen Wissenschaften"

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht 1996 herausgegebene "Handbuch zur 'Völkischen Bewegung'" hat sich über die Jahre zu einem wichtigen Nachschlagewerk entwickelt, dessen Konsultation unumgänglich ist, wenn irgendein Datum, ein Name oder eine Institution aus dem völkischen Umkreis zu recherchieren ist. Auch wenn die Forschung zur völkischen Bewegung, wie sie im "Handbuch" komprimiert ist, intensiv war, hat es jedoch zugleich gezeigt, dass noch genügend Wissenslücken bestehen, die Herausforderungen für einige Generationen von Historikern darstellen. Man wird also das nun erschienene "Handbuch der völkischen Wissenschaften" als sinnvolle Ergänzung ansehen, zumindest aus dem Grund, dass dieses Nachschlagewerk im Unterschied zu dem früheren Band aus Interesse an den Jahren 1933-1945 entstand und sich nur am Rande mit dem im "Handbuch zur 'Völkischen Bewegung'" behandelten Zeitraum 1871 bis 1918 beschäftigt.

Allerdings ist mit dieser Änderung zugleich das Problem des "Handbuchs der völkischen Wissenschaften" benannt (das eben kein "Handbuch der (völkischen) Wissenschaft im Nationalsozialismus" oder ein "Handbuch des Völkischen in der Wissenschaft" sein will), ist doch der Nationalsozialismus mit völkischen Bewegungen nicht gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, auch wenn die Nationalsozialisten die völkische Ideologie beerbten und aufsogen, haben sie doch zugleich immer ihre Dominanz betont und dabei auch konkurrierende Gruppen unterdrückt und verdrängt. Die völkische Bewegung war im Wesentlichen ein Resultat der Industrialisierung und Modernisierung des 19. Jahrhunderts und setzte sich von dort aus ins 20. Jahrhundert fort, um dort zu seiner verhängnisvollen Zuspitzung im Nationalsozialismus zu kommen. Dabei wurden die zahlreichen Varianten verdrängt oder aufgenommen. Insofern ist eine Perspektive, die von den Jahren 1933 bis 1945 ausgeht, verengt, sie denkt vom Resultat und nicht von der Entstehung und Genese aus.

Wie die Einleitung erkennen lässt, liegt die Ursache dafür in den Abgrenzungsbemühungen der Herausgeber. So betonen sie auffallend stark, dass nicht zuletzt mit diesem Band das Selbstbild der Wissenschaft korrigiert werden müsse, gegen den Irrationalismus des Nationalsozialismus oder des Völkischen immun gewesen zu sein.

Davon aber kann keine Rede sein. Die Wissenschaft war weder immun noch glaubt dies heute noch irgend jemand. Dafür ist das Wissen um die Akzeptanz dieses Denkens in der Wissenschaft zu groß, und dazu ist auch die Skepsis über die Objektivität und Rationalität wissenschaftlichen Denkens zu stark. Dass Wissenschaft und Interesse eng zusammen hängen, ist spätestens seit den einschlägigen Studien Jürgen Habermas' allgemein geläufig. Außerdem gehört es zu den Binsenwahrheiten der Forschung zum "Dritten Reich", dass sich unter seinen Funktionären auffallend viele junge Akademiker finden, vielleicht mit dem Literaturwissenschaftler Joseph Goebbels, "unserem Doktor", wie ihn Hans Heinz Ewers in seinem Horst-Wessel-Roman 1932 nennt, als vornehmstem Beispiel.

Hinzu kommt, dass über die Nähe von Wissenschaft und Nationalsozialismus doch einiges bekannt ist, zugegebenermaßen vielleicht in den Fächern, die im "Handbuch" wenig vertreten sind. Die Aufarbeitung der früheren Nähe der Germanistik zum völkischen Denken ist jedenfalls mittlerweile keine Bringschuld mehr, die das Fach noch zu abzuliefern hätte. Die Namen Josef Nadler, Hans-Ernst Schneider, Hans-Werner Schwerte, Fritz Martini, Hermann Pongs, Julius Petersen und andere, die im "Dritten Reich" Karriere machten oder zu den Parteigängern des Nationalsozialismus gehörten, sind geläufig. Die zeitweilige Umbenennung der renommierten germanistischen Fachzeitschrift "Euphorion" in "Dichtung und Volkstum" ist offensichtliches Zeichen für die Attraktivität, die der Nationalsozialismus für die Germanistik besaß. Die Philosophie hat mit Martin Heidegger sogar eine bis heute bekannten und geschätzten Repräsentanten, der sich als Wissenschaftler mit dem Regime gemein machte - nicht aus karrieristischen Gründen, sondern weil er große Übereinstimmungen seines Denkens mit dem Nationalsozialismus sah. Irrationale Denkmuster haben leider auch in der Wissenschaft Anhänger gehabt. Die Nähe von Nationalsozialismus und Wissenschaft ist kein Sonderphänomen. Das Völkische als Denkform und Interpretationsmuster fand weite Verbreitung. Mehr noch, es war für weite Teile des Bürgertums das selbstverständliche Denkmuster, wie nicht zuletzt - auf unterschiedlichem Niveau - Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) und Wilhelm Schäfers "Dreizehn Bücher der deutschen Seele" (1922) bezeugen. Solange Nation und Volk zusammengehören, ist davon auch in der Wissenschaft davon auszugehen, dass völkische Ideologie basal bleibt.

Einiges darüber hätte im "Handbuch" erläutert werden können. Stattdessen werden in gut 140 Artikel vor allem Historiker, Volkskundler, Statistiker oder Geografen porträtiert, die mehr oder weniger in den Kernjahren des "Dritten Reichs" aktiv waren. Hinzu kommen vor allem Institutionen des "Dritten Reichs", die professionell mit völkischen Themen befasst waren. Allerdings sollen ausdrücklich auch die Vorgänger und Nachläufer mitbehandelt werden. Der "Göttinger Arbeitskreis" als politische Institution wurde sogar erst 1946 gegründet. (Warum etwa die Rockefeller Foundation berücksichtigt ist, bleibt offen.) So ist es erklärtes Ziel des "Handbuchs", insbesondere die Nachwirkung völkischen Denkens nach 1945 mit darzustellen, deren Wirkungshorizont bis in die 1960er-Jahre hinein reicht.

Das ist insgesamt löblich und zu begrüßen. Auch bieten die Artikel aufschlussreiche Einblicke in biografische und institutionelle Abläufe, wenngleich die Verfasser gelegentlich einen auffallend unlexikalischen Stil wählen. Bemerkenswert auch die unkonzentrierte Einleitung von Paul Weindling, die dringend überarbeitet gehört hätte. Der Absatz etwa über den Zusammenhang von völkischem Denken und Holocaust bleibt unter dem argumentativen Niveau, das für ein solches Handbuch und ein solches Thema zwingend ist. Die Übergänge zwischen völkischem und konservativem Denken sind fließend, nicht einmal jüdische Wissenschaftler haben sich davon freihalten können, was angesichts dessen, dass die Universitäten in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert zu den wichtigsten konservativen und nationalistischen Reservoirs und Ausbildungsstätten gehörten, kaum verwunderlich ist. Denkt man freilich in diese Richtung, dann treten die Lücken des "Handbuchs" noch schärfer zutage. Das Konzept wirkt inkonsistent, die erste Musterung ist enttäuschend, die Zuverlässigkeit des "Handbuchs" muss sich erst noch erweisen.


Titelbild

Ingo Haar / Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften.
K. G. Saur Verlag, München 2008.
846 Seiten, 198,00 EUR.
ISBN-13: 9783598117787

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