Von chinesischen Traumdeutern und funktionellen Hirnzuständen

Ein Sammelband zum Phänomen des Traums

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor präzise 100 Jahren publizierte Sigmund Freud seine "Traumdeutung", für viele das Hauptwerk des Wiener Arztes und Begründers der Psychoanalyse. Das liegt nicht so sehr daran, dass Freuds Theorie des Traums epochemachend gewesen wäre. Die Zeitlosigkeit der "Traumdeutung" dürfte vor allem in der Darstellung psychischer Arbeit am Beispiel des Traums begründet sein. Daher auch die Analogien zur Entstehung von Literatur: Wer kennt nicht die berühmten Deutungen von Sophokles' "König Ödipus" und Shakespeares "Hamlet"? Was den Traum angeht, ist Freuds Theorie immer wieder angezweifelt und als unwissenschaftlich abgewertet worden. Das ist schade, denn nur eine wirklich differenzierte Bewertung kann Freud gerecht werden.

Der soeben erschienene Band "Der Traum", der Beiträge eines Züricher Symposiums versammelt, versucht klugerweise nicht, die Kontroversen wissenschaftlicher Traumdeutung zu übertünchen. Er stellt sie als das dar, was sie sind: Als ein Nebeneinander. Verzichtet wird auf jede Scheuklappenarroganz der einen Disziplin oder Methode gegenüber der anderen. Herausgekommen ist dabei ein gerade wegen seiner Heterogenität überaus lesenswertes, facettenreiches Buch, das schwerer wiegt, als es seine nicht einmal 140 Seiten vermuten lassen.

Angesichts der Breite des Themas mussten die beiden Herausgeberinnen des Bändchens selektiv verfahren. Die historische Perspektive wird von Helmut Brinker am Beispiel des "Traums in der Kultur Ostasiens" erläutert. Ein an Bildern wie an Überraschungen reicher Beitrag, der zeigt, dass die chinesischen Religionen und Kulturen hochinteressante eigene Traum-Konzepte entwickelt haben, und das Jahrhunderte vor den Europäern. Der zweite Beitrag steht zunächst schroff dagegen, entpuppt sich aber als hervorragende Ergänzung und vor allem als wissenschaftliche Grundlegung der Beschäftigung mit dem Thema. Dietrich Lehmann und Martha Koukkou erläutern die "Hirnmechanismen der Traumprozesse". Das Assoziative des Traums wird damit erklärt, dass der schlafende Erwachsene auf die verschiedenen, hierarchisch geordneten Schubladen seiner Erinnerung mit "kognitiv-emotionalen Stragegien der Kindheit" zugreift, also Erinnerungen wie "ein Kind seine Phantasien und die Realitäten in der Wachheit" behandelt; das Kind unterscheidet bekanntlich viel weniger zwischen Phantasie und Realität als ein Erwachsener.

Die Mitherausgeberin Barbara Meier hat empirisch mit einer Reihe von Testpersonen untersucht, wie eine Traumsprache aussieht, und herausgefunden, dass in erster Linie Alltägliches dargestellt wird; Erlebtes so gut wie Erfundenes. Eine wunderbare Ergänzung dazu ist der Beitrag von Brigitte Boothe, die zeigt, weshalb Träume trotz alltäglicher Inhalte so fremd wirken: weil sie "auf eine motivgebende Klammer", auf Begründungen von Handlungen und Geschehnissen verzichten. Detlev von Uslars sich anschließende Überlegungen zu "Traum und Zeit" vermögen dagegen weniger zu überzeugen. Wenn festgestellt wird, der Traum eröffne "Wege in die Zukunft, auf denen wir zu dem finden, was wir eigentlich selbst sind", dann klingt das, mit Verlaub, ziemlich nebulös.

Trotz dieser kleinen Einschränkung kann man dem Sammelband aber bescheinigen, der populären Esoterik-Falle entgangen zu sein. Die größte Zahl von Publikationen zum Traum, in der Regel handelt es sich um Symbollexika, dürfte in diesen Bereich gehören und ist auf dem Niveau von Horoskopen.

Titelbild

Brigitte Boothe / Barbara Meier: Der Traum. Phänomen - Prozess - Funktion.
vdf Hochschulverlag, Zürich 2000.
134 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 372812690X

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