Siegfried stirbt

Ulla Berkéwicz' Trauerbuch "Überlebnis"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor 26 Jahren hat Ulla Berkéwicz mit dem schmalen Band "Josef stirbt" ihr literarisches Debüt gegeben. Ihr Erstling über den Tod eines alten Bauern erschien damals im Suhrkamp Verlag, und so lernte die Autorin den mächtigen Verleger Siegfried Unseld kennen und lieben. Ulla Berkéwicz war mit ihm bis zu dessen Tod im Oktober 2002 verheiratet und ist seine Nachfolgerin an der Spitze des renommierten Frankfurter Verlagshauses.

Das vorliegende Trauerbuch "Überlebnis" liest sich wie ein literarisches Requiem für Siegfried Unseld, ohne dass dessen Name im Text explizit erwähnt wird. Statt dessen wählt Ulla Berkéwicz in diesem höchst persönlichen, geradezu intimen Text die unpersönlichen Varianten "der Mann" und "die Frau". Das zutiefst subjektive Empfinden der Trauer, das sich einstellende emotionale Vakuum, das Abschiednehmen von einem geliebten Menschen, das jeder Hinterbliebene auf ganz eigene Weise vollzieht, wird auf diese Weise - trotz des autobiografischen Hintergrunds - mit einem künstlerischen Schutzschild umgeben. Das "Ich" wird wohl nicht nur aus formal-künstlerischen Motiven umgangen, es wäre - so steht zu vermuten - ein noch erheblich schmerzhafterer Schreib-Prozess gewesen.

Wir nehmen teil an den letzten fünf Lebensmonaten, erleben aus der Sicht der Frau den Klinikaufenthalt, der von medizinischer Nüchternheit und kalten Pflegemechanismen geprägt ist. Stille Wut über den Krankenhausalltag, die eigene Ohnmacht am Krankenbett, die Trauer über das Dahinsiechen eines geliebten Menschen mischen sich mit eigenen handfesten körperlichen Erschöpfungssymptomen zu einem physisch-psychischen Inferno. In diesem Zustand höchster Erregtheit gewinnt die Rauchpause mit der Putzfrau des Krankenhauses schon beinahe beruhigenden Charakter.

"Ihr fehlt jedes Maß an Trauer", lässt Ulla Berkéwicz ihre weibliche Hauptfigur resümieren und scheint sich und ihr Buch damit gleichermaßen in Schutz nehmen zu wollen. Bisweilen schwankt man bei der formalen Umsetzung nämlich zwischen Bewunderung und Entsetzen. Das Sterben des Mannes wird auf einer religiös-philosophischen Metaebene immer wieder mit den großen Tragödien in Beziehung gesetzt und mit Zitaten aus der Weltliteratur (Gottfried Benn und André Bréton) angereichert. Die ausgebildete Schauspielerin Berkéwicz kann sich dabei große pathetische Gesten nicht verkneifen, und man fühlt sich bisweilen an die wortgewaltigen Theatermonologe Thomas Bernhards erinnert.

"Die Liebe und der Tod" seien die Themen dieses Buches, hatte die Autorin in einem "FAZ"-Interview erklärt. Mit dem Tod ist die "Frau" (eben auch Ulla Berkéwicz selbst) seit frühester Kindheit vertraut gewesen, durch ihren Vater, der als Krankenhausarzt tätig war und durch ihre jüdische Großmutter, die ihr von einem "Spalt" erzählte, durch den der "Sterber" geht. In diesen erinnernd-meditativen Passagen und in den Schilderungen des langsamen, für beide Partner qualvollen Sterbens gelingen ihr Sätze von unglaublicher, lakonischer Präzision: "Nie lebt man so sehr, wie wenn man stirbt." Zurück bleibt der leidende Hinterbliebene: "Trauern ist ein Bestandteil des Lebens wie Verliebtsein", befand Ulla Berkéwicz kürzlich über dieses Buch. Die Grenzen zwischen den scheinbaren Antagonismen Trauer und Liebe werden in "Überlebnis" aufgehoben. Manchmal durch beklemmend-intime Nähe, manchmal durch verwegen-theatralisches Pathos. Ein Buch, das ambivalente Gefühle hinterlässt.


Titelbild

Ulla Berkéwicz: Überlebnis.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
130 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419557

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