Re-Thinking Europe

Auf dem Weg zu einer transnationalen Identität

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit wurden die Faktoren 'Volk', 'Tradition' und 'Sprache' gemäß einer monokulturalistischen Vorstellung als Pfeiler des Nationalstaates betrachtet. Der Nation wurde die Rolle der Schöpferin und infolgedessen der Trägerin und Bewahrerin von (kultureller) Identität zugeschrieben, die sich besonders gut in der eigenen Sprache, Geschichte, Tradition und Literatur manifestieren konnte. Literatur wurde größtenteils als jeweilige Nationalliteratur aufgefasst, wodurch sie den Charakter eines Hilfsmittels zur Konstruktion von (kultureller) Identität erhielt. Dabei wurde Europa als "self-identical" und "unified" als Entität, also mit einer festgeschriebenen, einheitlichen Identität gedacht. Dementsprechend eurozentristisch und vor allem mitteleuropäisch orientiert war die europäische Komparatistik von Anbeginn ihres Bestehens, wodurch eine Behandlung außereuropäischer Literatur völlig vernachlässigt wurde.

Mittlerweile hat man sich innerhalb des Diskurses von der Gleichsetzung der Entitäten Nation und Sprache sowie einer monokulturalen und -lingualen Auffassung von Kultur verabschiedet und besteht Konsens darüber, dass (kulturelle) Identität sich im Sinne eines Konstrukts in einem dynamischen, nie abgeschlossenen Prozess entwickelt. Die Tatsache, dass wir alle in multikulturellen Gesellschaften leben, wird ebenso akzeptiert wie die Forderung auch 'exotische' Literaturen in den Fokus der Forschung zu nehmen.

Diesem Wandel innerhalb des europäischen Diskurses widmet sich der von den jungen belgischen WissenschaftlerInnen Nele Bemong, Mirjam Truwant und Pieter Vermeulen herausgegebene vorliegende Sammelband "Re-Thinking Europe. Literature and (Trans)National Identity".

Bereits in ihrer Einleitung plädieren die HerausgeberInnen für Internationalismus, kulturellen Pluralismus und Interdisziplinarität innerhalb der vergleichenden Literaturwissenschaft und betonen, dass Identität durch Interaktion und Dynamik charakterisiert wird. Die in drei Sektionen aufgegliederten 17 Beiträge versuchen Europa als hybriden Komplex darzustellen, der nicht abseits von Antagonismen wie 'regional' und 'global' oder 'nationalistisch' und 'pluralistisch' gedacht werden und somit auch keine kollektive europäische Identität besitzen kann. Ein Prozess des Überdenkens des europäischen Wesens sowie dessen Identität, also "re-thinking Europe", sei vonnöten. Forschungsgegenstand sind dabei gerade Literaturen, die sich im 'Dazwischen' bewegen, wie Exilliteratur, Literatur von ethnischen Minoritäten sowie Literatur in sprachlichen Kontaktzonen in Grenzgebieten.

Die im Sammelband aufgenommenen Beiträge nähern sich dem Thema unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten an. Eine erste Kategorie widmet sich inter-, trans- und hypernationalen Identitäten, wobei eine Anzahl kritischer Konzepte und Methoden vorgestellt werden, die kreiert wurden, um nationale Grenzen übersteigen zu können. Ob flämische Bestrebungen nach Emanzipation, Autonomie und Unabhängigkeit, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts beliebte histoire anglaise oder international angelegte Zeitschriften - in all den angeführten Beispielen spiegelt sich eine Affinität zu Kosmopolitismus und den dynamischen und fließenden Verhältnissen zwischen verschiedenen kulturellen Formationen wider.

Ein zweiter Schwerpunkt des Buches ist die Beschäftigung mit der Frage, wie transnationale Identitäten in der Praxis gelebt beziehungsweise ausgeführt werden. Vor dem Hintergrund der Dialektik zwischen dem Nationalen und dem Internationalen und dem nach wie vor vorherrschenden Eurozentrismus wird Europas Selbstbild hinterfragt. Die Texte beleuchten, wie der Status von Europa aus nicht-europäischer Sicht aufgefasst wurde beziehungsweise wird und wie diese kritische Sichtweise in einem weiteren Schritt zu einem Überdenken der europäischen Perspektive geführt hat beziehungsweise immer noch führt. Illustriert werden diese Thesen anhand so divergierender Themen wie lateinamerikanischen Aktivierungen des Konzeptes Europa in den Werken Alejo Carpentiers, Jorge Luis Borges und Witold Gombrowicz, dem islamischen Engagement in Europa unter anderem im Werke Orhan Pamuks sowie der literarischen Konfrontation zwischen Europa und Japan.

Letztendlich geht der vorliegende Sammelband auch der Frage nach, wie traditionelle Bilder Europas noch heute wirken und dessen aktuelle Identitätsformung beeinflussen. Durch die ständige Konfrontation mit teilweise schon jahrhundertealten Vorstellungen über das Wesen Europas überdenkt dieses sich selbst und benutzt Aspekte aus der Vergangenheit, um Anhaltspunkte für die Zukunft zu erhalten. Gerade literarische Repräsentationen vermögen es, innerhalb des Prozesses der Identitätskonstituierung sowie in der Konstruktion nationalen Bewusstseins und kultureller Differenz starken Einfluss auszuüben, da Literatur immer eines der stärksten Werkzeuge war und ist, um beständige Bilder des 'Eigenen' und des 'Fremden' zu schaffen und zu erhalten.

Alle in "Re-Thinking Europe. Literature and (Trans)National Identity" aufgenommenen Beiträge bestechen durch ihr hohes Niveau und die teilweise gänzlich neuen Sichtweisen auf bereits vielfach untersuchte Themenkomplexe, wobei vor allem auch der in vielen Fällen hervortretende interdisziplinäre Charakter der Artikel hervorgehoben werden muss. Durch den hohen Grad an Wissenschaftlichkeit der Artikel wird es einem oftmals erschwert, seine ganze Aufmerksamkeit dem eigentlichen Kern der Studie zu widmen, da sich der Inhalt mancher Absätze erst nach mehrmaligem Lesen zu offenbaren beginnt. In ihrer Gesamtheit unterstreichen die Beiträge jedoch, dass Europa keine feststehende Entität ist, sondern sich in einem dynamischen, fließenden Prozess befindet, infolgedessen sich auch die Identitäten der jeweiligen Elemente - gemeint sind die einzelnen europäischen Staaten - konstituieren. So etwas wie eine europäische Identität gibt es nicht - ganz im Gegenteil: wir befinden uns direkt auf dem Weg zu einer transnationalen Identität.


Titelbild

Nele Bemong / Mirjam Truwant / Pieter Vermeulen (Hg.): Re-Thinking Europe. Literature and (Trans)National Identity.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2008.
268 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9789042023529

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