Verrottendes Hühnerfett

Mark McNay zeichnet in "Frisch" ein bedrückendes Bild der schottischen Unterschicht

Von Nicolai RinnertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Rinnert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Brüder Sean und Archie wachsen in Royston auf. Dieser Stadtteil von Glasgow, in dem nur Menschen der untersten sozialen Schichten leben, prägt die beiden von Anfang an. Als ihr Vater sich davonmacht und die Mutter wenig später durch einen Unfall ums Leben kommt, werden sie in die Obhut ihres Onkels Albert gegeben, der sein Möglichstes tut, um die Kinder vernünftig zu erziehen. Doch die Umgebung und die Umstände fordern ihren Tribut: Archie gerät laufend auf die schiefe Bahn. Er verübt Einbrüche und handelt mit Drogen, bis er schließlich immer wieder im Gefängnis landet. Sean hingegen bemüht sich, das Beste aus seiner Situation zu machen. Er heiratet, zeugt eine Tochter und bekommt eine Stelle in der "Frisch"-Abteilung der ortsansässigen Hühnerverarbeitungsfabrik - ehrliche Arbeit, aber ein Knochenjob.

Archie versucht immer wieder, seinen Bruder in seine zwielichtigen Machenschaften hineinzuziehen. Mal soll er "ein Päckchen" transportieren, mal "nur eine Fahrt" machen; wieder und wieder dringt Archie in Seans halbwegs geordnetes Leben ein und stiftet Chaos. Dieser hasst ihn dafür und für die Brutalität, mit der er vorgeht, kann aber gleichzeitig nicht vergessen, dass sein Bruder sich einmal auf dem Schulhof für ihn geprügelt hat.

Als Archie wieder einmal ins Gefängnis muss, hinterlegt er 1.000 Pfund bei Sean, die er abholen will, wenn er wieder auf freien Fuß kommt. Sean kann nicht widerstehen, etwas von dem Geld zu nehmen. Er beruhigt sich damit, dass er mit Überstunden an seiner ungeliebten Arbeitsstelle den vollen Betrag wieder zusammen haben wird, bis sein Bruder wieder freikommt. Doch dann erhält er die Nachricht, dass Archie vorzeitig entlassen wird.

Mark McNay schloß 1999 sein Studium in Creative Writing an der East Anglia University ab. 2007 erhielt er den Arts Foundation Prize. Sein Leben davor bestand aus den unterschiedlichsten Jobs: er begann eine Ausbildung zum Elektroingenieur, war Fensterputzer, malochte auf dem Bau, arbeitete als Putzkraft in der Geriatrie eines Krankenhauses und stand, wie auch sein Protagonist Sean, am Fließband einer Hühnerverarbeitungsfabrik. Diese Nähe zum "wirklichen Leben" der Unterschicht lässt er direkt in seinen Text einfließen, der hart und bisweilen brachial das Dasein von Menschen schildert, die von der Allgemeinheit und auch von sich selbst als der Bodensatz der Gesellschaft betrachtet werden.

Dabei verzichtet er auf alles schmückende Beiwerk: die Sätze sind kurz und prägnant, die Beschreibungen eingängig und unverschnörkelt, und die Dialoge müssen ohne Anführungszeichen auskommen, als könnten sich die am Rande der Armut lebenden Protagonisten nicht einmal diese leisten. Dabei bleibt McNays Sprache stets authentisch ohne ins Klischeehafte abzurutschen, besonders wenn er Sean gelegentlich seine Vergangenheit rekapitulieren und in kurzen Monologen seine Erinnerungen beschreiben lässt.

Mark McNay wirft mit "Frisch" nicht nur einen Blick in jene dunkle Ecke der Gesellschaft, die man gern als "sozialen Brennpunkt" bezeichnet - er nimmt den Leser an der Hand, marschiert mit ihm direkt hinein und zeigt, dass Dramen sich auch an Orten abspielen, die nach verrottendem Hühnerfett stinken. Ein verstörender Roman.


Titelbild

Mark McNay: Frisch.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
dtv Verlag, München 2008.
258 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783423246279

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