Zu dieser Ausgabe

In Gustav Frenssens Genozid-Roman "Peter Moors Fahrt nach Südwest" (1906) kommen dem soldatischen Ich-Erzähler vorübergehende Zweifel am Sinn des deutschen Vernichtungsfeldzugs gegen die Herero. Allerdings beziehen sich seine Bedenken nur auf das Leiden der deutschen "Schutztruppen": "Ich hatte während des Feldzuges oft gedacht: 'Was für ein Jammer! All die armen Kranken und all die Gefallenen! Die Sache ist das gute Blut nicht wert!'".

Noch viel bemerkenswerter ist aber sein folgender, paradigmatischer Satz, dessen Sinn den damaligen Lesern offenbar nicht weiter erläutert werden musste: "Aber nun hörte ich ein großes Lied, das klang über ganz Südafrika und über die ganze Welt, und gab mir einen Verstand von der Sache."

Ein solche bizarre "Rechtfertigung", die - dem Erfolg des Romans nach - ein Massenpublikum ohne Probleme nachvollziehen konnte, zeigt, dass der Kolonialismus auch in Deutschland auf breiter Ebene anerkannt und für selbstverständlich gehalten wurde. Mehr noch: Dass nach diesem Diskurs ein letaler 'Entscheidungskampf' zwischen hierarchisierten "Rassen" ganz einfach geführt werden müsse, wurde schlicht als eine Art 'ewiger Melodie' des unaufhaltsamen Fortschritts der Weltgeschichte begriffen.

Trotz alledem stecken die Postcolonial Studies in der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft erst noch in den Kinderschuhen. Eine Relektüre expliziter oder impliziter Kolonialtexte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts ist dringend geboten - verspricht sie doch vollkommen neue und vielfältig anschlussfähige Perspektiven. Die Juni-Ausgabe von literaturkritik.de schafft schon einmal Abhilfe und versammelt Essays und Rezensionen vieler ausgewiesener Kenner dieses Forschungszweigs, die eine erste Orientierung bieten und bereits erschienene, wichtige Studien vorstellen.

Möglichst viele "kontrapunktische Lektüren" (Edward Said) wünscht Ihnen
Ihr
Jan Süselbeck