Spezifische Entwicklungen

Miroslav Hroch analysiert die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim ersten Betrachten des Buchtitels könnte man meinen, es handele sich um eine Streitschrift konservativer Europakritiker. "Europa der Nationen": ist das nicht der Schlüsselbegriff und die normativ aufgeladene Programmvokabel derjenigen politischen Kräfte, die durch den Prozess der Europäischen Integration die Nationalstaaten und das Nationale an sich bedroht sehen? Einer Strömung, die gegen den "bürokratischen Zentralismus" der EU die Nationalstaaten stark macht, in denen Politik noch auf authentische Weise möglich sei? Die Repräsentanz dieser Europaskeptiker und Nationalkonservativen im Europäischen Parlament nennt sich "Union für ein Europa der Nationen" und fordert die Souveränität "ihrer Länder" zurück.

Beim Untertitel angekommen, wird dem Leser klar, dass es sich nicht um eine Propagandaschrift der Europaskeptiker handelt: "Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich" steht hier auf dem Programm. Es handelt sich bei dem vorliegenden Band um eine Synthese der langjährigen Arbeit des Nationalismusforschers Miroslav Hroch. Als späte Ergänzung hat Hroch seiner 1968 in Prag erschienenen Studie über "Die Vorkämpfer der nationalen Bewegungen bei den kleinen Völkern Europas" zwei weitere Bände von 2000 und 2003 hinzugefügt und somit eine "informelle Trilogie" zum Problem der Formierung moderner Nationen geschaffen. Der vorliegende, dritte Band widmet sich den nationsbildenden Prozessen in der europäischen Geschichte - aus vergleichender Perspektive.

Im einleitenden Kapitel führt Hroch in die Schwierigkeiten der Nationalismusforschung ein und gibt einen guten Einblick in die Kontroversen um die Definition des Nationenbegriffs. In dem historischen Ritt durch die Nationsdefinitionen und den unterschiedlichen dort vorfindlichen Ansätzen wird denn auch klar, wo sich Hroch verortet. Er positioniert sich in Distanz zu den zwei etablierten Ansätzen der Nationalismusforschung: dem essentialistisch-objektivistischen und dem konstruktivistisch-subjektivistischen. Der erstere, auch als "Primordialismus" bezeichnet, geht davon aus, dass die Nationen durch gewisse objektiv vorhandene Eigenschaften konstituiert wird, die alle Mitglieder der nationalen Gemeinschaft teilen: Rasse, Sprache, Territorium, Geschichte und Kultur. Für den zweiten Ansatz sind, zumal in seiner radikalen Spielart, Nationen nichts als Erfindungen und Konstruktionen des menschlichen Geistes. Nationen existieren somit lediglich in den menschlichen Vorstellungen und der gefühlten nationalen Gemeinschaftlichkeit.

Hrochs Interesse ist es, abseits von diesen sehr abstrakt geführten theoretischen Debatten definitorischen Charakters, der historischen Genese der europäischen Nationen nachzugehen: "Ob man nun die Nation als konstruierte oder als unabhängig von den Intentionen der Menschen existierenden Gruppe, als 'Substanz' ansieht, oder als Mythos und Illusion - in jedem Fall gilt, dass keine wissenschaftliche und vor allem keine historische Untersuchung der Nation auf die Erklärung ihrer Entstehung, auf die Analyse der Beziehungen und Einstellungen verzichten kann, die zur erfolgreichen 'Erfindung' oder Werdung der Nation oder zur Entstehung des Nationalismus geführt haben".

Seinem Selbstverständnis als "neutraler Historiker" folgend, schlägt Hroch vor, auf die Verwendung von "Nationalismus" als analytische Kategorie zu verzichten und schlägt den wertneutralen, nicht von politisch-polemischen Debatten besudelten Begriff "nationale Identität" zur Analyse der nationsbildenden Prozesse vor.

Auf die terminologischen Debatten lässt Hroch im Einführungskapitel noch weitere propädeutische Bemerkungen folgen: er schlägt die Grundtypen der Staatsnationen (zum Beispiel Frankreich) und der staatenlosen Nationalbewegungen (etwa Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert) vor und die schon im Werk von 1968 entwickelte Periodisierung. Diese unterteilt die Entwicklung zur modernen Nation nach dem funktionalen Kriterium der Verbreitung der nationalen Identität - der Nationsbildungsprozess nimmt Ausgang (Phase A) in der Fixierung bestimmter "nationaler" Werte und Eigenschaften (hier ist das Werk von Intellektuellen entscheidend), geht über die Phase der Verbreitung durch das Entstehen einer politischen Bewegung mit nationaler Programmatik (Phase B) und endet schließlich im Entstehen einer nationalen Massenbewegung (Phase C), die breite Teiles des "Volkes" umschließt: "Vom vollen Erfolg um damit vom Abschluss der Nationalbewegung lässt sich dann sprechen, wenn die nationale Gemeinschaft ihre komplette Sozialstruktur und die politische Autonomie oder Unabhängigkeit erreicht hat".

Auf das instruktive und einführende Kapitel folgen zwei umfangreiche Kapitel, die die Besonderheiten und Etappen der Nationsbildungsprozesse in Europa in vergleichender Perspektive nachzeichnen. Entlang eines klaren Rasters zeichnet Hroch die Differenzen und Eigentümlichkeiten der einzelnen national-spezifischen Entwicklungswege nach, wobei er unterschiedliche Quellen und Elemente des Nationalbildungsprozesses thematisiert. Er hebt vor allem die gesellschaftlichen Voraussetzungen hervor, vor deren Hintergrund sich die Herausbildung der Nationen abspielen konnte und bestimmt sie schließlich als Phänomen der Moderne.

Hroch thematisiert in einem eigenständigen Abschnitt auch die Aktivitäten, die im Namen der Nation geführt wurden. Auf historischem Detailwissen gründend, werden die breite Fülle der Aktivitäten von Nationalbewegungen beleuchtet und auch die innere Struktur und relevante Interessenskonflikte (soziale Trägerschaft und Herkunft) zusammengefasst. So entsteht ein umfassender Eindruck von den Betätigungsfeldern, Motivationen und unterschiedlichen ideologischen Begründungsmustern und gestifteten Mythologien der Nationalbewegungen. Die historischen und auch kulturellen Ausführungen Hrochs vermögen somit einen sehr guten Einblick in die komplexen Prozesse zu vermitteln, die die Identifikation mit der Nation ermöglichen (Fest, Denkmäler, Mythologien). Leichte Skepsis kommt hingegen auf, wenn Hroch den Einfluss des "ethnischen Faktors" behandelt. Die Kategorie der "Ethnie" wird in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren verstärkt problematisiert, wenngleich auch ihre Wirkmächtigkeit immer wieder betont wird. Doch es scheint schon leicht überzogen, wenn Hroch die Wirkung des ethnischen Bewusstseins schon im Mittelalter verortet: "Die Ethnizität spielte seit dem Mittelalter eine wichtige Rolle für das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit wie für das Bewusstsein der Andersartigkeit". An dieser und analogen Stellen wäre ein kritischer Hinweis auf alternative Erklärungen wünschenswert gewesen, die darauf aufmerksam machen, dass "Ethnizität" erst durch die Entstehung und den Eingriff des Nationalstaats, zum Beispiel durch repressive Sprachpolitik zu einem Politikum und gesellschaftlich relevanten Faktor werden konnte.

Dennoch liefern Hrochs Ausführungen nicht nur einen guten Einblick in die internen Debatten der Nationalismusforschung, sondern beleuchten auch die historischen Linien in dem widersprüchlichen Prozess der Nationenentstehung in Europa. Die Lektüre des Buches vermag sicherlich dazu zu verhelfen, zu vermeiden, die politischen Auseinandersetzungen über Nationen und Nationalismus zu aufgeregt zu führen und belegt die These, dass die historische Analyse den Blick schärfen kann. Nationalismus ist nicht gleich Nationalismus - auch wenn dies vereinfachende Kritiken aus anti-nationaler Perspektive sympathischerweise nahe legen. Die wissenschaftliche Analyse von Nationalismus erfordert einen differenzierten Blick auf die historisch-sozialen Bedingungen. "Der Begriff Nationalismus wird nicht nur ohne Rücksicht auf den historischen und gesellschaftlichen Kontext verwendet, sondern auch ohne zu beachten, was sein Objekt war". Diesen Punkt klar gemacht zu haben, ist das Verdienst der Hroch'schen, theoretisch wie historisch informierten Ausführungen über die Prozesse der Nationswerdung in Europa. Dass dadurch eine politische Kritik an nationalistischen Erscheinungsformen noch längst nicht überflüssig ist, macht das Aufleben nationalistischer Rhetoriken, sei dies in Form von Standortnationalismus oder in Form ethnisch-separatistischer Bewegungen, deutlich.


Titelbild

Miroslav Hroch: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich.
Herausgegeben von Philipp Ther und Holm Sundhausen.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Elizka und Ralph Melville.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005.
279 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3525368011

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