Kritisch notiert

John Maxwell Coetzees "Tagebuch eines schlimmen Jahres"

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein seltsames Buch. Der neue Roman - oder das Tagebuch beziehungsweise die Textcollage - von John Maxwell Coetzee verlangt zunächst eine formale Aufschlüsselung durch den Leser. Dieser sieht sich zu Beginn seiner Lektüre mit einem strukturellen Problem konfrontiert: Wie lese ich das Buch? Jede Seite ist mit zwei Querlinien in drei Abschnitte unterteilt: Oben, Mitte, Unten. Man hat drei parallele Texte vor sich, die ein gemeinsames Subjekt haben und zeitlich synchron ablaufen. Coetzee nutzt also keine sprachlichen Umschreibungen wie zum Beispiel "zeitgleich" oder "zur selben Zeit" um die Erzählebenen zu synchronisieren. Dies verleiht jedem der drei Texte eine gewisse Eigenständigkeit und baut keine unnötigen sprachlichen Verschränkungen ein, was die Lektüre der einzelnen Textebenen erfreulich homogen gestaltet.

Auf der ersten Textebene - also im "oberen" Seitenbereich - findet der Leser die Reflexionen Coetzees zu verschiedenen Stich- oder Schlagworten der Gegenwart: "Über den Ursprung des Staates", "Über Anarchismus", "Über Demokratie", "Über Machiavelli", "Über den Terrorismus" und so weiter. Dabei entwirft Coetzee ein kritisches Bild der Gegenwart, wägt Positionen gegeneinander ab und nimmt Stellung zu Themen wie Terrorismus und Pädophilie - und den damit einhergehenden Heucheleien. Dabei gelingt es ihm auf eine entspannte Art, über die Themen zu reflektieren - und gleichzeitig nutzt er die zweite und dritte Textebene, um die Bedenklichkeiten seiner eigenen Erörterungen kritisch zu kommentieren. Einerseits geschieht dies in der zweiten Ebene - der mittlere Teil der Seite - durch ein erzählerisches Ich, das als Verfasser der Aufzeichnungen der ersten Textebene hier sein tägliches Leben beschreibt, andererseits durch die Perspektive einer Nachbarin des Erzählers aus Ebene zwei, die der Autor als Schreibkraft engagiert. Sie ist seine erste Leserin, die die Aufzeichnungen kommentiert. Gleichzeitig fungiert sie als Muse des Autors, der von der lebhaften und hübschen jungen Frau fasziniert ist und auf die Unterbrechungen seiner Einsamkeit während des Schreibens angewiesen zu sein scheint.

Aus dieser formal interessanten Situation ergibt sich zwar eine Schwierigkeit beim Lesen - liest man seitenweise, liest man erst einen Kommentar, liest man kapitelweise? -, die aber jeder Leser schnell für sich entscheiden wird. Zudem löst sie einen vielschichtigen Rezeptionsvorgang aus und sorgt für kreatives Lesen. Das Vor- und Zurückblättern führt zur intensiveren Lektüre. Dass dabei der Inhalt nicht zurücksteht, mag für einen etwas sperrigen Gegenstand wie "Ansichten" verwunderlich sein, aber die unterhaltende Lektüre wird einen schnell eines Besseren belehren. Vielleicht ist aus den als "Tagebuch" bezeichneten "Aufzeichnungen" unter der Hand doch ein Roman geworden? Man überzeuge sich selbst: Ein Zeitkommentar von überraschender Zeitlosigkeit.


Titelbild

John Maxwell Coetzee: Tagebuch eines schlimmen Jahres.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
236 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783100108340

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