Formen denken

Deutsch-französische Studien zur Poetik des Wissens von 1750-1830

Von Frauke BerndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Berndt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sobald die symbolischen Formen des Denkens in den Blick geraten, muss die aufgeklärte 'Kritik der Vernunft' einer 'Kritik der Kultur' weichen, erläutert Ernst Cassirer in den 1920er-Jahren in der "Philosophie der symbolischen Formen". Doch offenbar ist mit dem Glauben an das reine Denken, das sowohl die Beziehung des Menschen zur Welt als auch die Beziehung von Mensch zu Mensch störungsfrei gewährleistet, schon viel früher Schluss. Die 12 Beiträge (Anne Baillots fundierte historisch-systematische Einführung in den Problemkomplex und ein Epilog zu Theodor W. Adorno mitgezählt) zeigen nämlich, dass zwischen 1750 und 1830, also zur gleichen Zeit, in der die großen Systeme der deutschen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelt worden sind, die kleinen "Formen der Philosophie in Deutschland und Frankreich" eine immer wichtigere Rolle spielen.

Huldigen vor allem die idealistischen Philosophen dem Geist und der Vernunft und verdrängen oder verleugnen die Tatsache, dass natürlich auch jedes systema - Gebilde - eine Form hat, entdecken andere in den kleinen Formen wie dem Dialog, dem Essay oder dem Brief nicht nur die Unhintergehbarkeit der Form, sondern auch die Vorzüge einer solchen Unhintergehbarkeit. Sie schöpfen nämlich, wenn man so will, den philosophischen Mehrwert ab, den symbolische als ästhetische Formen erwirtschaften. So ist es nicht erstaunlich, dass ausgerechnet die kleinen Formen der Philosophie ein hohes Maß an ästhetischer Selbstreflexivität auszeichnet, weil sie auch über verschiedene symbolische Formen wie die Architektur oder die Plastik nachdenken.

Im Unterschied zu den weiter gefassten Fragestellungen, die im Rahmen von Wissensgeschichte oder Wissenspoetik gestellt werden, greifen die Herausgeberinnen für ihren Formbegriff auf die Stilistik zurück. Was zunächst als Hintertür zu den wirklich wichtigen Fragestellungen erscheinen könnte, erweist sich als Haupteingang zur Philosophie der europäischen Moderne, die ihr Zentrum im zweisprachigen Berlin-Potsdam hat, wie Conrad Wiedemann in seinem "Geleitwort" ausführt. Wir haben es also mit einer doppelten Perspektivierung zu tun: einerseits mit einer philosophisch-stilistischen, die verschiedene Gattungen und Reflexionsfiguren der Form behandelt und grundsätzlich nach dem Verhältnis von Gedanken und ihrem Ausdruck fragt; andererseits mit einer sozial-historischen beziehungsweise sozial-politischen Perspektivierung, die Form in den Zusammenhang der großen gesellschaftlichen Umbrüche um 1800 stellt. In dieser Zeit bildet sich ein Markt aus, auf dem nicht nur Autoren der schönen, sondern auch der philosophischen Literatur ihre Produkte an den Mann zu bringen haben und deshalb - der vermeintlich leichteren geistigen Verdaulichkeit halber - auf die kleinen Formen zurückgreifen. Nicht nur das Dichten, sondern auch das Philosophieren wird zu einem Beruf, was die so genannte Popularphilosophie, wie sie in Deutschland und Frankreich des 18. Jahrhunderts entwickelt worden ist, zur langfristig erfolgreicheren Form der Philosophie macht.

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert: In den Abschnitt "Erneuerung der Formen: Theorie und Praxis - Renouvellement des formes: théorie et pratique" leitet Anne Baillot ein; er umfasst Essays zu Étienne Bonnot de Condillac (Essay), Moses Mendelssohn (Popularphilosophie) und Friedrich Melchior Grimm (Brief). In den Abschnitt "Die Dialogform - Le dialogue" führt Mildred Galland-Szymkowiak ein; sie behandelt die narrativen und dialogen Formen bei Jean-Jacques Rousseau, J.J. Engel und K. W. F. Solger. Die beiden Essays zu Nationalismus und Patriotismus des Abschnitts "Historische Perspektiven - Perspectives historiques", den Manuela Böhm moderiert, setzen sich mit zwei verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen auseinander: der gelehrten Gesellschaft und der Memorialarchitektur. Im Abschnitt "Text und Bild - Texte et image" stellt Charlotte Coulombeau zwei Essays zur ut pictura poesis-Diskussion sowie zu G. W. F. Hegels Auseinandersetzung mit der Niederländischen Malerei vor.

Dass die Beiträge teils in deutscher, größtenteils in französischer Sprache verfasst sind, scheint mir die pragmatische Lösung einer internationalen, interdisziplinären Kooperation von Wissenschaftlerinnen zu sein (denn in der Mehrzahl sind sie es, die hier die Formen des Denkens reflektieren), die zwischen Paris und Berlin pendeln. An diese Form werden wir uns zu gewöhnen haben, ist Mehrsprachigkeit in ihrer selbstverständlichen Eleganz doch die konsequente Abbildung des internationalen Dialogs (und als solche durchaus eine Alternative zum universalen Englisch) - eines Dialogs, der seit den letzten Jahren schließlich auch den Horizont der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften erweitert.


Titelbild

Anne Baillot / Charlotte Coulombeau (Hg.): Die Formen der Philosophie in Deutschland und Frankreich. Les formes de la philosophie en Allemagne et en France 1750-1830.
Baillot, Anne.
Wehrhahn Verlag, Laatzen 2007.
253 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783865252067

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