Ein helles Licht auf dunklem Pfad

Lucia Hackers hervorragende Untersuchung der Lebens- und Arbeitssituation von Schriftstellerinnen um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Lektüre von Lucia Hackers Magistra-Studie ist man geneigt zu schreiben, dass hier saubere Arbeit in staubigen Archiven geleistet wurde. Allerdings wäre das ziemlich unzutreffend. Denn die Archive der Berliner Staatsbibliothek sind natürlich blitzblank und alles andere als staubig. Außerdem ist die Wendung auch nicht sonderlich originell. Richtig aber ist, dass die Literaturwissenschaftlerin und Ethnologin sauber recherchiert hat. Und das ist noch viel zu wenig gesagt, denn das schmale Bändchen mit dem Allerweltstitel "Schreibende Frauen um 1900" geht einer weit abseits der von der Forschung gerne beschrittenen und darum nicht nur bestens ausgeleuchteten, sondern oft auch ausgetretenen Forschungswege gelegenen Frage nach und begibt sich ins unwegsame Dunkel eines weiten Feldes, das der Mainstream-Forschung bislang so gut wie nicht in den Blick geraten war. Dies ist eine der Voraussetzungen für den ganz außerordentlichen Erkenntnisgewinn, den Hackers innovativer Forschungsansatz birgt.

Doch worum geht es? Hacker geht auf die Suche nach den "Lebens- und Arbeitswelt[en]" schreibender Frauen um 1900, und zwar "unabhängig vom Bekanntheitsgrad und der literarischen Qualität der Autorinnen". Hackers "Hauptanliegen" besteht darin, schreibenden Frauen "näher zu kommen", "die sich in dem vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen bewegen", und gerade nicht biografische 'Ausnahmeerscheinungen' wie etwa Franziska zu Reventlow zu untersuchen. Zunächst fragt Hacker danach, welche Frauen überhaupt schrieben und welche Motive sie dazu veranlassten, sodann, wie die Literatinnen "die - für sie relativ neuen - Möglichkeiten, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ergaben, nutzten, um sich auf dem literarischen Markt zu behaupten", welche Erfahrungen sie dort machten und gegebenenfalls, wie es ihnen gelang, sich als Schriftstellerinnen zu "etablieren". In ihrer Arbeit führt Hacker also Ethnologie und Literaturwissenschaft zusammen - oder besser gesagt, sie nähert sich dem Fragenkatalog als literaturwissenschaftlich geschulte Ethnologin.

Ihre Quellenbasis bietet der Nachlass Karl Wilhelm Franz Brümmers, der in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende für sein in mehreren Auflagen erschienenes "Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart" alle ihm bekannten und erreichbaren SchriftstellerInnen, die mindestens eine selbstständige Publikation vorzuweisen hatten, um eine "einigermaßen ausführliche Biographie" bat. Die ca. 6.000 Antworten gelangten 1918 in die Königliche Bibliothek zu Berlin, der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin.

Die Autobiografien und autobiografischen Selbstzeugnisse in Brümmers Nachlass umfassen sowohl "Dreizeiler auf der Rückseite einer Visitenkarte" wie auch Texte, die einen Umfang von zwanzig oder mehr "eng beschriebenen Seiten" aufweisen, und "bieten in einmaligem Umfang einen repräsentativen Querschnitt durch die schreibende und publizierende deutschsprachige Bevölkerung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert." Unter ihnen befinden sich ca. 2.000 Selbstzeugnisse von Schriftstellerinnen. Dass Hacker sich auf diese konzentrierte, ist nicht etwa einem besonderen Interesse für schreibende Frauen zu danken, sondern alleine darauf zurückzuführen, dass der gewaltige Quellenfundus mittels eines sinnvollen Kriteriums reduziert werden musste, um von der Magistrantin im Rahmen ihrer Arbeit überhaupt bewältigt werden zu können.

Der Quellenfundus ermöglicht zudem, danach zu fragen, wie sich die Autorinnen in den Biografien selbst inszenierten, und ob geschlechtsspezifische Unterschiede zu den Selbstinszenierungen ihrer Kollegen auszumachen sind. Daher zog Hacker auch eine "begrenzte Zahl von Männerbiographien" für die Untersuchung heran. Aus dem Gesamtnachlass wählte sie neunzig Selbstzeugnisse von Autorinnen (unter ihnen vierzig "besonders ausführliche Biographien") und zum Vergleich fünfzig Biografien von Männern. Zu den "frappanteste[n] Geschlechtsunterschied[en]" zählt Hacker zufolge die "Form" der Selbstdarstellungen. Sind sie bei den Frauen sehr individualisiert, so gleichen die der Männer fast ausnahmslos "standardisierte[n] Erwerbsbiographien".

Zur Darstellung der Ergebnisse ihrer Untersuchung bedient sich die Autorin eines "Mix[es] aus quantitativ beschreibender Analysen und einer qualitativen Auswahl 'typischer' Beispiele". Neben zahlreichen erhellenden Statistiken bieten gerade die Zitate aus den Selbstzeugnissen oft verblüffende Einblicke in die Motivationen schreibender Frauen und deren Lebensumstände. Zu Hackers ersten Befunden zählt, "daß sich ungeachtet aller Individualität der einzelnen Biographie bestimmte Muster wiederholten". So weisen viele Autorinnen darauf hin, "daß es doch nichts Interessantes aus dem eigenen Leben zu berichten gäbe", was ja auch insofern bemerkenswert ist, als über Jahrhunderte hinweg gerne unterstellt wurde, Frauen könnten wenn überhaupt, dann allenfalls biografisch schreiben. Eine Unterstellung, auf die Hacker allerdings nicht eingeht.

Ebenfalls typisch für die Selbstdarstellungen ist, dass etliche Autorinnen ihr "geringes Wissen" bedauern "und mit welchem Eifer sie - meist autodidaktisch - versucht haben, ihre Fähigkeiten zu erweitern." Auch werden die Kindheit und die eigene Erziehung sehr oft besonders ausführlich beschrieben, während ihr weiteres Leben mit Beginn des Erwachsenenalters "häufig in eine Art Grauzone mündet." Als Motivation führen die Schriftstellerinnen wiederholt an, das Schreiben sei eine "für sie geeignete Form einer beruflichen Erwerbstätigkeit". "Künstlerische Ideale" wurden hingegen weitaus seltener als Motiv genannt. Zieht man in Betracht, dass sich Frauen vor und um 1900 tatsächlich wenig Möglichkeiten boten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und dass Hacker nicht die Situation und Motivation der wenigen herausragenden Schriftstellerinnen (und Schriftsteller), sondern der Durchschnittsautorinnen beleuchtet, kann die Motivlage nicht überraschen. Zudem könnte für die bescheidenen Angaben der Schriftstellerinnen eine Rolle spielen, dass Frauen über Jahrhunderte hinweg anerzogen wurde, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. So wurde Schriftstellerinnen insbesondere während des 18. Jahrhunderts die Demutsgeste, in ihren Publikationen zu versichern, dass sie keinerlei literarische oder künstlerische Ambitionen hegen, geradezu abverlangt. Auch dies könnte also in den entsprechenden Aussagen der untersuchten Autorinnen nachhallen. Interessant wäre zu wissen, ob die Motivation bei den durchschnittlichen männlichen Autoren sehr viel anders war. Sollte dem so gewesen sein, muss der Grund nicht unbedingt in einem etwaigen drängenderen Bedürfnis, sich künstlerisch zu betätigen, gesucht werden. Vielmehr dürfte in diesem Fall auch eine Rolle spielen, dass sich Männern zahlreiche andere Möglichkeiten boten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Hacker äußert sich hierzu leider nicht.

Verheiratete Frauen, die in der Regel nicht darauf angewiesen waren, aus finanziellen Gründen zu schreiben, schrieben Hacker zufolge, "wenn sie sich in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter unterfordert fühlten." Das könnte man auch anders formulieren und betonen, dass die Hausfrauentätigkeit viele Frauen so in Anspruch nahm und sie in aller Regel zudem ganz ohne "ein Zimmer für sich allein" auskommen mussten, so dass sie weder die Zeit noch die Möglichkeit hatten, zu schreiben. Hinzu kommt, dass der Ehemann oft Einspruch erhoben und jegliche schriftstellerische Tätigkeit der Gattin verboten haben dürfte. Darüber kann die Untersuchung nur wenig Auskunft geben. Interessant ist aber jedenfalls, dass die Autorin Anna Claud-Saar betont, "wie sehr sie darum bemüht ist, sich als gute Hausfrau zu beweisen", und einen Zusammenhang mit dem Verhalten ihres Mannes herstellt: "Ich muß meine Schreiberei wie ein Verbrechen betreiben da mein Mann mich nur als Hausfrau liebt u. ich meinen Stolz darein setze, eben weil ich Künstlerin war, eine gute Hausmutter zu sein". Anzumerken ist, dass es entgegen der von Hacker geäußerten Verwunderung durchaus nicht ungewöhnlich ist, dass künstlerisch tätige Ehemänner die gleich oder ähnlich gearteten Ambitionen ihrer Frauen nicht unterstützen, sondern sabotieren, weil sie fürchten, überflügelt zu werden.

Eines der interessantesten Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung besteht darin, dass das in der Forschung auch heute noch aufrecht erhaltene Klischee, die Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende hätten sich mit ihrer Tätigkeit für die seinerzeitige Frauenbewegung stark machen wollten, keineswegs zutrifft. "Erstaunlich wenige Frauen" führten als Motivation ihres Schreiben die "Unterstützung der Frauenbewegung" an. Vielmehr kam dem Thema Frauenrechte im "weitaus größten Teil" der untersuchten Selbstaussagen "keinen besondere[r] Stellenwert" zu.

Hackers erhellende Arbeit klärt nicht nur über das Selbstverständnis der Schriftstellerinnen und deren soziale Herkunft auf - "Frauen aus der Oberschicht" bildeten mit über 50 % die größte Gruppe und unter diesen wiederum "Töchter höherer Beamter" -, sondern zeigt auch die Muster auf, nach denen Brümmer in die Selbstzeugnisse der Autorinnen (und Autoren) eingriff und zu Artikeln für sein Lexikon verarbeitete. Ein Beispiel hierfür mag genügen: Zwar pflegten die Frauen in der Regel von sich aus ihren Familienstand inklusive des Namens ihres Ehemannes zu nennen, wird er jedoch wie etwa von Lou Andreas-Salomé nicht erwähnt, fügt Brümmer ihn ein und setzt auch noch gleich den Berufstand des Gatten hinzu, während er umgekehrt bei den männlichen Autoren eventuell in den Selbstzeugnissen enthaltene Angaben zum Familienstand oder der Anzahl der Kinder tilgt. Auffällig ist des Weiteren, dass Brümmer die Namen der Autorinnen in den Texten seiner Lexikon-Artikeln auf die Vorname reduzierte. So wurde aus einer "Frau von Ende" im Lexikon schlicht "Amalie". "Ein sehr interessanter Befund", wie Hacker zurecht anmerkt, "denn natürlich entsteht durch die bloße Verwendung der Vornamen ein Frauenbild, das einen Eindruck der Unmündigkeit weckt".

Wie die Lektüre ihrer Arbeit zeigt, ist Hacker steilen Thesen mehr als abgeneigt. Lieber betreibt sie ein akribisches Quellenstudium. Auch argumentiert sie stets konservativ in dem Sinne, dass sie die Quellenlage nicht überstrapaziert, um irgendeine These zu stützen. Das ist eine der Qualitäten ihrer einen neuen Forschungsweg eröffnenden Untersuchung. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn diese kleine, aber hochinteressante Arbeit in der Masse der alljährlich produzierten Wissenschaftspublikationen untergehen würde.


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Lucia Hacker: Schreibende Frauen um 1900. Rollen - Bilder - Gesten.
LIT Verlag, Münster 2007.
168 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783825898854

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