1968 war überall

Norbert Frei spürt den globalen Schwingungen der 68er-Bewegung nach

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, es gibt sie leider noch nicht: "Die große analytische Erzählung des 'unwahrscheinlichen Jahres' in der Bundesrepublik", wie der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei im Nachwort seiner kompakten und klugen 68er Retrospektive zu Recht anmerkt. Auch er ist dieser Herausforderung ausgewichen. Aber nur um sich einer vielleicht noch komplexeren Aufgabe zu stellen und das "rebellische Jahrzehnt" gleich in seiner globalen Vernetzung zu analysieren. Und er hat es wahrlich bravourös gemeistert, das Trennende und Verbindende der 68er Bewegungen in den USA, Frankreich, Deutschland, der Tschechoslowakei oder den Niederlanden herauszufiltern. Vor allem aber hat er in seinem historisch abwägenden Urteil politische Neutralität und moralische Gerechtigkeit walten lassen. Frei pflegt eine sachliche Prägnanz und Ausgewogenheit, die man in den derzeitigen Publikationen zum Thema schmerzlich vermisst.

Freilich wusste man auch schon vor seinem Revolutionsrückblick, dass die ersten politischen Emanzipationsimpulse und Protestformen aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung kamen. Dennoch deutet er die Aktionen und Motive des "Civil Rights Movement" im Süden der Vereinigten Staaten, die ersten Studentenproteste in Berkeley Anfang der 1960er-Jahre und die Radikalisierung und den Zerfall der Revolte zu Beginn der 1970er-Jahre überzeugend als ineinander verschränkte, sich gegenseitig durchdringende und beschleunigende Prozesse. Die Studenten in Berlin oder Frankfurt haben 1967/68 vor allem Sit-ins, Go-ins und andere öffentlichkeitswirksame "Happenings" aus den USA kopiert. Aufgrund des NS-Erbes begründeten sie aber ihre Kritik an den gesellschaftlichen und universitären Verhältnissen ganz anders und schlugen nur in dieser Hinsicht einen "deutschen Sonderweg" ein. In "der vergangenheitspolitischen Aufladung des Konfliktes" lag in der Tat "der wichtigste Unterschied zur Entwicklung der Revolte in den Demokratien des Westens." Insofern ergibt es Sinn, die Wurzeln des Aufbegehrens in der "Kampf dem Atomtod"-Bewegung gegen Ende der 1950er-Jahre zu suchen und im Aufkeimen der Neuen Linken an den Universitäten Anfang der 1960er-Jahre weitere Revolutionstriebe sichtbar zu machen. Dass die 68er-Revolte in Deutschland und anderswo eine oft vergessene Vorgeschichte hatte und eher von einem "rebellischen Jahrzehnt" als von einem rebellischen Jahr gesprochen werden muss, wird nach seiner historischen Rundumschau deutlich erkenn- und nachvollziehbar.

Erst seine erweiterte Blickrichtung erlaubt es, Vergleiche zwischen den einzelnen emanzipatorischen Strömungen und zwischen den einzelnen Ländern zu ziehen. Außerdem zeigt sie, dass die Rebellen von 1968 meist nur das aufgriffen und dank der immer präsenteren Medien öffentlichkeitswirksam artikulierten, was an Unzufriedenheit in der Gesellschaft schon lange schwelte. Die 68er waren quasi der Katalysator eines Reformprozesses, der das "Gesicht und die Mentalität" der Bundesrepublik seitdem grundlegend veränderte. Während sich der freiere Lebens- und Kommunikationsstil auf breiter gesellschaftlicher Basis durchsetzte, bleibt aber etwa die Idee einer rätedemokratischen Verfassung bis heute eine politische Utopie. Insofern kann man das Fazit ziehen, dass sich mit 1968 die politische Kultur, nicht aber die staatlichen Strukturen grundlegend verändert haben.

Genau das demonstriert Frei auch an den mitunter ganz unterschiedlich motivierten und verlaufenden Ereignissen in Japan und Großbritannien oder in der Tschechoslowakei und in Polen. Auch wenn er den Bewegungen in diesen Nationen nur knapp 20 Seiten widmet, erhält man doch erstmals einen kurzen Einblick in das 1968 der "Anderen". Was angesichts der derzeitigen nationalen Nabelschau auch dringend geboten scheint, will man die Deutungsdominanz über diese Jahre nicht ausschließlich Alt-68ern überlassen. Insofern war die Darstellung eines "Nachgeborenen", vor allem aber die eines renommierten Zeithistorikers längst überfällig. Ebenso überfällig bleibt natürlich auch die "große analytische Erzählung" zu 1968 in Deutschland. Aber jetzt wissen wir wenigstens, wer sie schreiben könnte: Norbert Frei.


Titelbild

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest.
dtv Verlag, München 2008.
286 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783423246538

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