"Früher waren wir andere Kerle"

Werner Bräunigs Erzählungen über "Gewöhnliche Leute" legen Zeugnis von einem gebrochenen künstlerischen Selbstverständnis ab

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem sich die spektakuläre Wiederentdeckung von Werner Bräunigs (1934 - 1976) fragmentarischem Epochenroman "Rummelplatz" zu dem literarischen Ereignis des Frühjahrs 2007 ausgewachsen hatte, konnte es nicht ausbleiben, dass der Aufbau-Verlag und die Herausgeberin Angela Drescher versuchten, das neu entstandene Interesse an diesem Autor weiter zu bedienen. Freilich sah man sich damit vor die Schwierigkeit gestellt, dass Bräunigs ungeschminktes Monumentalporträt einer Gesellschaft im Aufbruch seine Stärken vor allem daraus bezog, dass sich hier ein eminentes Talent einem Gegenstand, den es am eigenen Leib erfahren hatte, ohne Rücksicht hingab, dafür ins Kreuzfeuer ideologischer Kritik geriet und später nie wieder so "naiv" an ein Thema heranzugehen vermochte.

Bräunig schrieb auf, was ihm begegnet war in seinen Jahren bei der Wismut AG, und wurde sich der Grenzen, die er dabei überschritt, wohl erst bewusst, als es zu spät war. Angela Dreschers informatives Nachwort in "Rummelplatz" dokumentiert die Wirkungsgeschichte eines Buches sehr genau, das von einem Arbeiter in einem sich als "Arbeiter- und Bauernstaat" gerierenden Land geschrieben wurde mit dem festen Vorsatz, mittels seines Schreibens zum Gedeihen dieser "besseren" Gesellschaft beizutragen. Dass jenes "neue Deutschland" von Anfang an auf getürkten Erfolgsmeldungen und unterdrückter Kritik als ideologischem Fundament aufbaute und seinen Repräsentanten mehr an einem Traumbild anstelle der ungeschminkten Wirklichkeit gelegen war, hat Werner Bräunig letzten Endes künstlerisch gebrochen und menschlich zum Wrack werden lassen. Er starb am 14. August 1976, gerade 42-jährig, in Halle-Neustadt.

Freilich hat der Autor in dem knappen Jahrzehnt, das ihm nach dem Scheitern seines Großprojekts noch blieb, nicht mit dem Schreiben aufgehört. Es sind im Gegenteil die Jahre bis 1976 sogar jene gewesen, in denen er einer breiteren Leserschaft in der DDR erst bekannt wurde. Auch seine Kritiker ließen nun nach und nach von ihm ab. Sie begannen sogar, in Bräunig einen Schriftsteller zu erkennen, der mit dem Essayband "Prosa schreiben" (1968) und der hier neu und kommentiert vorliegenden Erzählungssammlung "Gewöhnliche Leute" (1969, um 4 Texte erweitert 1971) "zu einer optimistischeren und realeren Haltung zur DDR gefunden hat", wie einer der Außengutachter im obligatorischen Druckgenehmigungsverfahren anmerkte. Und plötzlich zählte Bräunig sogar zu den wichtigsten Stimmen seiner Generation. Das - wie auch die Verleihung des Kunstpreises des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB an ihn im Jahre 1969 - war allerdings zu einem Gutteil Kalkül, denn den Regierenden begannen just in jenen Jahren die vorzeigbaren Autoren von Rang langsam auszugehen. Werner Bräunig, zutiefst verunsichert in seinem künstlerischen Wollen und merklich bemüht, der sozialistisch-realistischen Doktrin der herrschenden Partei gemäßer zu schreiben, mag ihnen da gerade recht gekommen sein.

Allerdings - man kann sich in den meisten Erzählungen des Bandes "Gewöhnliche Leute" schnell davon überzeugen - erkaufte sich der Autor die Akzeptanz der Kulturfunktionäre dadurch, dass er aus seinen Texten die Lebendigkeit, die "Rummelplatz" vor Energie vibrieren lässt, fast vollständig verbannte. Nicht mehr als bloße Thesenillustrationen sind einige von ihnen, die Protagonisten meist plakative Figuren von geringer Glaubhaftigkeit und mit stark idealisierten Zügen ausgestattet, der Stil ins Heroische zielend. Dass dies am allerwenigsten dem Autor selbst gefallen konnte, zeigt die Tatsache, wie schwer es Bräunig wurde, nach seinem ersten schmalen Erzählbändchen genug Texte für einen Nachfolgeband, um den der Verlag ihn gebeten hatte, beizubringen. Er wurde denn auch nie fertig. Die wenigen Erzählungen, die bis 1971 mühselig entstanden, reichten für eine weitere Sammlung nicht aus und wurden deshalb in die erweiterte Neuauflage der "Gewöhnlichen Leute" von 1971 aufgenommen.

Ästhetische Entdeckungen sind aus allen diesen Gründen für einen Leser, der sich 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung in die Erzählwelt des Werner Bräunig begibt, kaum zu machen. Da, wo ein inneres Regulativ Spontanität von Anfang an ausschließt, entsteht keine große Literatur mehr. Von Interesse vermögen die vorliegenden Erzählungen deshalb auch kaum mehr aus sich selbst heraus zu sein - sie übertreffen nur äußerst selten die Masse der inzwischen dem Vergessen anheimgefallenen Arbeiterliteratur mit all den Baustellenleitern und Parteisekretären, dem Ankunftsoptimismus und der Kollektivseligkeit samt plakativem Fortschrittsdenken und diesem integrierter Überzeugung von der Falschheit aller gesellschaftlichen Entwürfe in der bisherigen Geschichte. Interessant aber sind die Texte, wenn man sie an den Möglichkeiten misst, über die ihr Erfinder wenige Jahre zuvor noch verfügte, der breiten Palette literarischer Mittel, über die Bräunig souverän gebot und die ihm selbst suspekt geworden war während der langen öffentlichen Auseinandersetzungen um sein Hauptwerk. Erst dann vermag man nämlich die ganze Tragik zu begreifen, die diesen Autor zu der exemplarischen Figur im DDR-Literaturbetrieb machte, als die er den Lesenden heute erscheint.

In einem zweiten, kürzeren Teil enthält der vorliegende Band fünf kleine Texte aus dem Nachlass. Zeitgenössischen Lesern mag die Satire "Rundschreiben an die Vereinigten Spannbetonwerke" relativ belanglos erscheinen, eine nicht zur Veröffentlichung bestimmte Parodie sozialistischer Verordnungswut ("Die Sorge um den Menschen hat im Mittelpunkt zu stehen. Entsprechende Hinweisschilder sind anzubringen."), geschrieben zum privaten Amüsement für Bräunigs spätere zweite Frau. Wie humorfrei man in der DDR mit derlei Eulenspiegeleien umging, wenn sie den eigenen Staat betrafen, zeigte sich allerdings, als der Text entgegen den Absichten seines Verfassers publik wurde - alsbald standen der Autor und seine Adressatin unter öffentlichem Rechtfertigungsdruck.

Drei weitere Erzählfragmente gehören in den Umkreis von Bräunigs letztem, nicht mehr zur Vollendung gekommenen Romanprojekt "Einen Kranich am Himmel", das bis zum Tod des Autors einen Umfang von 500 bis 600 Seiten erreicht hatte, ohne genug innere Kohärenz zu besitzen, um veröffentlicht zu werden. Im letzten dieser Texte - "Früher waren wir andere Kerle" - greift Bräunig noch einmal auszugsweise darauf zurück, was er in "Rummelplatz" in epischer Breite bereits geschildert hatte. Ob das ein Beleg dafür ist, dass ihm in seinen letzten Lebensjahren die Kräfte ausgingen, ob er zu einem Menschen wurde, den viele, die ihn einst geschätzt und geliebt hatten, nicht mehr wiederzuerkennen vermochten, wie Angela Drescher, die auch diesen Band als Herausgeberin betreut hat, anmerkt, sei hier dahingestellt.


Titelbild

Werner Bräunig: Gewöhnliche Leute. Erzählungen.
Aufbau Verlag, Berlin 2008.
273 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351032302

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