Land mit vielen Gesichtern

Donna Rosenthals vielschichtige Studie über die facettenreiche Bevölkerung Israels

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein für internationale Nachrichten zuständiger Redakteur sagte einmal: "Wir haben Bilder von Juden, die wie Araber aussehen, von Arabern, die wie Juden aussehen. Wir haben dunkelhäutige Juden, bärtige Juden aus dem 16. Jahrhundert und attraktive Mädchen in engen Jeans. Wer sind diese Leute eigentlich?"

Eine Antwort darauf liefert Donna Rosenthal in ihrem Buch "Die Israelis - Leben in einem außergewöhnlichen Land", in dem sie Menschen vorstellt, deren Lebensweise und Selbstverständnis mitunter so weit auseinander liegen, dass man als einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen nur den Besitz eines israelischen Passes ausmachen kann. Die Autorin, amerikanische Reporterin und TV-Produzentin, die lange Zeit in Israel gelebt und gearbeitet hat, berichtet von normalen Menschen, die sich bemühen, in einer anormalen Zeit ein normales Leben zu führen und einen breiten Bevölkerungsquerschnitt repräsentieren, der von radikaler Modernität bis zu einem hingebungsvollen Traditionalismus reicht.

Laut Donna Rosenthal sind die meisten Israelis jüdischen Glaubens. Aber auch unter den in Israel lebenden Muslimen, Christen und Drusen können viele Hebräisch und wissen häufig mehr über die Bibel und die jüdischen Traditionen als die meisten Juden in der Diaspora.

In Israel gibt es neben den sephardischen vor allem aschkenasische Juden, Juden mit europäischen Wurzeln - unter ihnen sind Holocaust-Überlebende und deren Kinder -, dann die Mizrah-Juden, deren Familien aus islamischen Ländern des ländlichen Afrika geflohen sind, sowie Juden aus den Ostblock-Ländern. Mit einer Million Neueinwanderer haben diese seit den 1990er-Jahren Israel den weltweit höchsten Anteil an Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Ärzten und Musikern beschert. In manchen Städten und Stadtteilen Israels fühlt man sich wie in Moskau, das ans Mittelmeer versetzt wurde, meint Rosenthal. Allerdings seien etwa die Hälfte der Bevölkerung keine Juden.

Israel wird bewohnt von orthodoxen und unorthodoxen Juden, von Muslimen, Beduinen, Drusen und Christen - mit (wie könnte es anders sein?) antagonistischen Identitäten also. Die Siedler wiederum führen ein stark religiös geprägtes Leben und stehen durchweg ziemlich rechts.

Trotz seiner Bevölkerungsvielfalt, erfährt man weiter, hat Israel nur sieben Millionen Bewohner, die arabischen Israelis mitgerechnet. Das ist kaum mehr als die Einwohnerzahl von Bagdad. Das Gebiet selbst ist kaum größer als Rheinland-Pfalz, und doch entfällt ein großer Teil der Schlagzeilen der Weltpresse auf dieses Land. Da Israel klein ist, pendeln israelische Soldaten oft zwischen der Front und ihrem Zuhause hin und her - mehr als zwei Stunden brauchen sie dazu nur selten.

Donna Rosenthal schreibt auch von Partnersuche und Paarungsverhalten auf israelisch. Nicht viele von den etwa tausend Mischpaaren, die im Heiligen Land wohnen, trauen sich, ihre islamisch-jüdische Partnerschaft offen zu pflegen. Die Autorin erzählt ferner von Schwulenparaden, vom Leben in der Armee, von der hoch entwickelten israelischen High-Tech-Branche, in der es darum geht, Kapital und Wert zu schöpfen, und weist darauf hin, dass die Israelis gelernt haben, mit Terroranschlägen zu leben. Obwohl der Koran die Selbsttötung ausdrücklich verurteilt, gilt der Dschihad, der heilige Krieg, offensichtlich als eine hinreichende Rechtfertigung für die Hingabe des eigenen Lebens. Zumindest sind zum Sterben entschlossene Terroristen kaum aufzuhalten. Die Trotzhaltung der Israelis, sich von ihnen nicht einschüchtern zu lassen, hat nicht wenigen geholfen, in der gefährlichsten Umgebung der Welt ein normales Leben zu führen. Gleichwohl fühle man sich, "als ob man im Lotto gewonnen hätte, wenn der Bus, in dem man sitzt, nicht explodiert", erklärte der Erziehungspsychologe Moshe Zeidner.

Wir erfahren von spannungsreichen interkulturellen Begegnungen zwischen Juden und Juden und erhalten, weil zwischendurch einzelne Menschen immer wieder selbst zu Wort kommen, anschauliche Einblicke in das Alltagsleben verschiedener Gruppen sowie in zahlreiche spannende und ungewöhnliche Lebensgeschichten. Da ist zum Beispiel die Rede von traditionsgebundenen äthiopisch-jüdischen Müttern, die schockiert beim Anblick fast nackter weißer Jüdinnen sind, die im Stringtanga sonnenbaden. Wir lernen Sammy Smooha kennen, den weltgewandten und weltbekannten Soziologen an der Universität Haifa, dessen Familie aus Bagdad stammt und der seine Jugend in einer Hütten- und Zeltsiedlung in Jerusalem verbracht hat.

Der 28-jährige äthiopisch-israelische Humorist Yossi Vassa berichtet von ähnlichen Erfahrungen. "Als mein Vater das erste Mal Fernsehen schaute", erzählt er, "flippte er aus und fragte: ,Wie haben die so viele Leute in den kleinen Kasten gekriegt?' Er genierte sich, sich vor ihren Augen im Wohnzimmer umzuziehen."

Wir begegnen außerdem einer nicht-religiösen islamischen Chirurgin, die einen Nervenzusammenbruch erlitt, als sie erfuhr, dass ein Selbstmordattentäter einen ihrer jüdischen Patienten umgebracht hat. Auch des Schicksals des ersten israelischen Astronauten Oberst Ilan Ramon wird gedacht. Er war mit der Columbia ins All gestartet und bei der Rückkehr ums Leben gekommen.

Zwischendurch geht die Autorin auf gravierende geschichtliche und politische Entwicklungen und Ereignisse ein. Sie erwähnt den 13. September 1993 - an jenem Tag hatten in Oslo der PLO-Führer Yassir Arafat und der israelische Premierminister Yitzhak Rabin eine Grundsatzerklärung zur vorläufigen Selbstverwaltung unterzeichnet - und erinnert an einen der dunkelsten Augenblicke in der Geschichte Israels, nämlich an den 4. November 1995, an dem Rabin von dem rechtsradikalen Jurastudenten Yigal Amir erschossen worden war.

Israel ist, wie man durch die Lektüre dieses Buches unschwer erkennt, ein Land mit vielen Gesichtern. Im Epilog malen jüdische und arabische Israelis ihre Visionen von einer anderen Zukunft aus. Werden sie einander weiterhin misstrauen und umbringen oder werden sie lernen, zusammenzuarbeiten? Oder müssen sie sich mit dem Ausspruch des verstorbenen Dichters Yehuda Amichai zufrieden geben, dass ihr Ideal nicht mehr der Friede sei, sondern lediglich "die Abwesenheit des Krieges"?

Donna Rosenthal versteht es, mit ihrer griffig formulierten, kenntnisreichen und gründlich recherchierten facettenreichen Studie von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln. Leider wurde sie schlecht übersetzt und nachlässig lektoriert.


Titelbild

Donna Rosenthal: Die Israelis. Leben in einem außergewöhnlichen Land.
Übersetzt aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
411 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406555015

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