Freud und Wien

Eva Gesine Baur unternimmt eine "Spurensuche" in "Freuds Wien"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigmund Freud und Wien: eine gewaltige Konstellation mit Folgen für die Welt bis heute, aber auch Denkmal einer verlorenen Zeit. Es war die Ära des letzten Aufblühen Wiens, der Hauptstadt der k. und k. Monarchie, des königlich-kaiserlichen Vielvölkerstaatsgebildes. Noch in der schwülen Ästhetik des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts erschien hier symbolisch just zur Jahrhundertwende der erste jener Texte, die die Welt mit der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse bekannt machte: "Die Traumdeutung". Was in dieser und den nachfolgenden Schriften Freuds erläutert wurde, war seit 1891 in der berühmten Berggasse 19 entstanden. Hier lebte Freud, hier befanden sich die Praxisräume, in denen die revolutionäre Form der ärztlichen Behandlung ihre Entstehung gefunden hatte. Die junge Wissenschaft setzte sich allmählich durch und ihr Begründer schien nun langsam auch die ihm gebührende Würdigung zu erfahren, die ihm die königlich-kaiserliche Gesellschaft Wiens lange Zeit verweigert hatte.

Ob freilich die von tiefsitzenden antisemitisch geprägten Vorurteilen ausgestattete Kaiserstadtsgesellschaft tatsächlich ihren Frieden mit dem dem Religiösen so distanziert begegnenden, dennoch seine jüdische Herkunft nie verleugnenden Freud gemacht hätte, sei dahingestellt. Der Erste Weltkrieg ließ das tönerne Reich zusammenbrechen und abseits der politischen Wirren einer österreichischen Selbstfindung während der 1920er-Jahre entwickelte sich die Berggasse zum Zentrum einer spektakulär aufblühenden internationalen Wissenschaft - mehr noch: geschaffen wurde ein "Kulturwerk", wie Thomas Mann zum 80. Geburtstag Freuds am 8. Mai 1936 diesen zitierend resümierte. "Freud und die Zukunft" hieß der Festvortrag, und die Zukunft sollte sich mit der "weltverändernden" Kraft der "analytischen Einsicht" gestalten lassen als eine "angst- und haßbefreite, zum Frieden gereifte Zukunft."

Doch die unmittelbare Zukunft sah anders aus, seitdem die Nazis in Deutschland die Macht übernommen hatten. Die Feier am 8. Mai 1936 im mittleren Konzertsaal des Hotels Imperial war die letzte Repräsentation der "alten Welt" in der dem Untergang geweihten Kulisse dieser Stadt. Dann ging alles sehr schnell: 1938 wird Österreich Teil des Nazireiches, die Österreicher jubeln, antisemitischer Terror vernichtet in wenigen Wochen die soziale und kulturelle Welt der Stadt. Fast war das "Kulturwerk" schon gänzlich zerstört, da konnte ein junger Fotograf noch festhalten, wie es aussah in dem berühmten Haus in der Berggasse, bevor dort alles verpackt und verschickt wurde ins Exil nach London, wo Freud am 23. September 1939 starb. Zurück blieben 1938 die vier Schwestern Rosa, Maria, Adolphine und Pauline. Vier Jahre später wurden die alten Damen von den Nazis ermordet. Als man nach 1945 begann, die Trümmer der Zerstörung wegzuräumen, stellte man fest: nichts ist geblieben.

Das ist die Ausgangslage, in der Eva Gesine Baur ihre "Spurensuche" in Wien beginnt: "Wer sich in Wien auf die Suche nach Freuds Spuren begibt, brauchte bisher sehr viel Phantasie und gute Laune, denn an den legendären Schauplätzen erwartet den Spurensucher meistens Enttäuschung." Die meisten Gebäude existieren nicht mehr, einzig das 1971 noch mit Unterstützung Anna Freunds eingerichtete Museum in der Berggasse bietet unmittelbare Anknüpfungspunkte an die verlorene Vergangenheit. Und obwohl das Museum, wie die Autorin vermerkt, "mit jedem Jahr reicher, schöner und aufregender geworden ist", bleibt auch hier eine "leise Frustration": denn die "berühmte Couch" steht in der Freud-Gedenkstätte in London.

Doch auch die nicht mehr existierenden Schauplätze lassen sich im Stadtraum ergehen. Sie sind Leerstellen im Stadtbild oder Lehrstellen für missglückte Erinnerungskultur. Um diese erkunden und bewerten zu können, muss man diese Stellen allerdings kennen. Eva Gesine Baur bietet in 18 Kapiteln ihrer Spurensuche einige dieser Orte an. Sie erzählt in angenehmer Plaudermanier "Szenen" aus dem Leben Freuds und über "gedankliche Umwege" leitet sie "ins Herz von Freuds Leben und in das seiner Stadt." Das sind neben den verlorenen Orten auch andere wohlbekannte Orte in Wien. So lassen sich beispielsweise der Lesesaal der Hofbibliothek, das Cottageviertel mit der Sternwarte, der Karmelitermarkt oder Otto Wagners berühmtes Postsparkassenamt auch im Zusammenhang mit Freud ergehen.

Ausgewählte Fotos reichern den Text an. Am Ende eines jeden Kapitels wird der Spaziergang zusammengefasst und weitere Adressen werden mitgeteilt. Dieserart ist der Band als gefälliger Begleiter beim nächsten Wien-Besuch zu empfehlen.


Titelbild

Eva Gesine Baur: Freuds Wien. Eine Spurensuche.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
235 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-13: 9783406570650

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