Bruchlinien des Denkens

Die Rückkehr der Wahrheit in der Zeitschrift für Ideengeschichte

Von Sigrid GaisreiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Gaisreiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem ersten Heft kennt die Zeitschrift für Ideengeschichte (ZIG) feste Rubriken. Neben einem Schwerpunktthema enthält es einen "Essay", ein "Denkbild" und ein "Gespräch", im "Archiv" wird ein älterer Text vorgestellt und schließlich finden sich unter "Konzept-und-Kritik" Hinweise auf Tagungen, Kontroversen und Buchrezensionen. Diese Rubriken knüpfen mal mehr oder weniger locker an den Schwerpunkt an. In vorliegender Nummer wird das Thema Wahrheit von den drei Autoren Simon Blackburn, Rüdiger Zill und dem 2006 verstorbenen Historiker Reinhart Koselleck bestritten. Anlass für eine Beschäftigung mit diesem Thema war, so im Editorial Carsten Dutt und Martial Staub, dass in der anglo-amerikanischen Philosophie diesem Thema größere Aufmerksamkeit geschenkt werde und es nach Jahren der Abstinenz zurückkehre.

Im Mittelpunkt des Artikels des Philosophieprofessors Simon Blackburn zur Rückkehr der Wahrheit steht daher eine Auseinandersetzung mit dem postmodernen, bisweilen auch als relativistisch bezeichneten Paradox, dass es wahr sei, dass es Wahrheit nicht gäbe. Offensichtlich waren postmoderne Intervention in den Geisteswissenschaften derart erfolgreich, dass Blackburn auf eine martialisch anmutenden Metapher vom "Schlachtfeld" zugreift, um alle Windungen und Wendungen, die diese Debatte nahm, zu rekapitulieren. Sein Aufsatz aber präsentiert nicht mehr Aspekte als in der üppigen Sekundärliteratur zu finden sind und hätte daher auch gut zum ersten Schwerpunktthema der ZIG gepasst, das "Alte Hüte" hieß. Blackburn schreibt sich "Vernunft und Objektivität" auf die Fahnen, kann aber die "Schlachtordnung" nicht vollständig aufstellen. Dazu hätte gehört, die unterschiedlichen Wahrheitstheorien vorzustellen, um sich dann mit der postmodernen Attacke auf eine davon zu befassen. Im Fokus postmoderner Debatten standen Adäquations- und Korrespondenztheorien, nicht jedoch Kohärenz- und Konsenstheorien. Letztere wird von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel vertreten und wurde von Nachfolgern der älteren Frankfurter Schule kritisiert. Sehr interessant dagegen ist der folgende Beitrag von Rüdiger Zill, der das Werk des Philosophen Hans Blumenberg auf dessen Beiträge zum Thema Wahrheit untersucht. Einen großen Coup landete Carsten Dutt, der Reinhart Koselleck noch kurz vor dessen Tod auf einen Beitrag, einen unveröffentlichten Vortrag aus dem Jahr 1976, verpflichtete. Koselleck nahm sich mit dem "Fiktion und geschichtliche Wahrheit" betitelten Text der (scheinbar) paradoxen Verbindung von Faktischem und Fiktivem, von Politisch-Historischem und Poetischem an. Zunächst dekliniert er mögliche Variationen des Verhältnisses ideengeschichtlich durch, ehe er, nun in einem systematischen Durchgang, das häufig antithetisch gefasste Verhältnis, die Zuordnung der res factae zur Historik und der res fictae zur Poetik, als unzureichend qualifiziert und in mehreren Kurzgeschichten mögliche Legierungen von Fiktivem und Faktischem durchspielt. Mehr vielleicht als in seinen zahlreichen Buchpublikationen glückt hier aufs Schönste die Verbindung von homo politicus und poeta doctus.

"Jedem Wort seinen Ort" könnte als Titel über dem in der Rubrik "Gespräch" geführten Gedankenaustausch von Marcel Lepper mit Julia Kristeva stehen, die mit dem in die Literaturwissenschaft eingeführten Begriff "Intertextualität" für Wirbel sorgte. Ab 1970 gehörte Kristeva auch zum Redaktionskomitee der Gruppe "Tel Quel", von dessen Innenleben sie viel erzählt. Ob Kristeva aber die politische Orientierung der in den 1970er-Jahren dem Maoismus zuneigenden Gruppe nicht ein wenig retuschiert, bleibt kontrovers, wenn sie meint, diese sei nur ein "Protestschrei gegen den Konformismus der kommunistischen Partei und der pro-sowjetischen Linken" gewesen. Der Historiker zu den politischen Orientierungen französischer Intellektueller, Michel Winock, sieht in seiner Studie "Das Jahrhundert der Intellektuellen" den Sachverhalt wesentlich kritischer.

Neben einer Reihe weiterer sehr interessanter Beiträge, so Valentin Groebners "Essay" zum Thema Kulturwissenschaften und Gewalt, Frank Duffners "Denkbild" zu Jeremy Benthams "Auto-Icon" oder Thomas Meyers "Archiv"-Beitrag zu einem unbekannten Brief Gershom Scholems, werden im Heft fünf Beiträge präsentiert, die spannende Einblicke in ideengeschichtliche Baustellen gewähren. So berichtet Tim B. Müller von einer Tagung im Berliner Wissenschaftskolleg zur "Modern Indian Intellectual History", die sich mit dem Wandel von Kontexten befasste. "Im Grenzgang" betitelt Jan Eike Dunkhase seine Besprechung einer Biografie von Carola Dietze zu Helmut Plessner, die als wichtiger Beitrag zu Forschungen der bundesrepublikanischen Wissenschaftswelt qualifiziert wird.

Der nächste Beiträger Peter König weitet den Zuschnitt auf die europäische Wissenschaftswelt anhand einer Besprechung einer italienischen Neuerscheinung von Tullio Gregory mit dem Titel "Origini della terminologia filosofica moderna. Linea di ricerca". Die Publikation bündelt Aufsätze des italienischen Philosophiehistorikers, der unter anderem an einem Forschungsprojekt beteiligt ist, das, so König, "der Erforschung der sprachlichen Formen des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens in Europa von der Spätantike bis in die Zeit der Spätaufklärung" gelte und vom in Rom angesiedelten Forschungszentrum "Istituto per il Lessico Intellettuale Europeo e Storia delle Idee" getragen wird. König identifiziert drei Forschungsschwerpunkte, internationale Symposien zum Bedeutungs- und Funktionswandel lateinischer Grundbegriffe zu veranstalten, ferner sollen Konkordanzen und Wortindexe zu Autoren, Werken und Werkgruppen erstellt werden - und als drittes Betätigungsfeld nennt König die Erforschung der Geschichte der modernen italienischen Sprache.

Die beiden abschließenden Beiträge von Hans Ulrich Gumbrecht und Carsten Dutt schließen inhaltlich insofern an den vorigen Beitrag an, als sich im Anschluss an einen Beitrag von Dutt im ersten Heft der ZIG zu Gumbrechts Veröffentlichung "Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte" eine kleine Debatte darüber entspann, ob die Zeit der Großeditionen zur Begriffsgeschichte nicht abgelaufen sei.

Dass Denken eine Vielzahl von Universen erzeugen kann, beweist einmal mehr das vorliegende Heft der ZIG, das auf verschlungenen Pfaden zu großen und kleineren Ideenräumen führt.


Titelbild

Carsten Dutt / Martial Staub (Hg.): Zeitschrift für Ideengeschichte. Die Rückkehr der Wahrheit.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
128 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783406559853
ISSN: 18638937

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