Ein Sommer mit Stella

Siegfried Lenz gelingt mit seiner "Schweigeminute" eine rührende Geschichte

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stella Petersen, die etwa 30-jährige Englischlehrerin des Lessing-Gymnasiums, ist tot. Die immer gut gelaunte und "lachbereite" Frau, von der ihre Schüler dachten, sie sei eine von ihnen, starb an den Folgen eines Segelunfalls. Die Unerfahrenheit ihrer Freunde sei ihr auf stürmischer See zum Verhängnis geworden, heißt es in der Kleinstadt an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Jene Schüler, die sie noch vor wenigen Tagen im Krankenhaus besucht haben, erkannte sie nicht mehr wieder.

Nun sind Lehrerkollegium und Schüler zu einer Gedenkfeier zu ihren Ehren in der Aula versammelt. Während sich bei einigen Quartanern keine pietätvolle Stimmung einstellen möchte und sie nicht aufhören, sich herumzuschubsen und miteinander zu reden, versinkt Herr Kugler, der Kunsterzieher, der mit Stella öfter auf ihrem gemeinsamen Heimweg und beim Schwimmen gesehen wurde, in tiefster Trauer um seine Kollegin. Doch die zarte Liebesgeschichte, die auf den darauf folgenden etwa hundert Seiten von Lenz erzählt wird, entsteht überraschenderweise nicht zwischen Stella und dem in sie verliebten Witwer mit den vier Kindern, sondern zwischen Stella und ihrem 18-jährigen Schüler Christian. Er lässt während der Schweigeminute, als Ich-Erzähler der Novelle, die Ereignisse eines Sommers und damit die Stationen einer kurzen Liebe vor seinem inneren Auge Revue passieren.

Ihren Anfang nimmt die Beziehung des ungleichen Paares - Gefühle sind nun mal nicht steuerbar - bei einem Strandfest. Stella verbringt, bevor sie von ihren Freunden auf dem Zweimaster "Polarstern" zum Segelurlaub mitgenommen wird, ein paar Tage im Hotel "Seeblick", dessen Gäste Christian auf dem Schiff seines Vaters, eines Steinfischers, gelegentlich herumfährt. Auf dem Weg zu einem unterseeischen Steinfeld stranden die beiden auf der einsamen Vogelinsel und kommen einander in der Hütte des alten Vogelwarts, in der sie vor dem Regen Schutz suchen, näher. "Ich legte eine Hand auf ihre Schulter und spürte das Verlangen, ihr etwas zu sagen, gleichzeitig hatte ich nur den Wunsch, die Berührung dauern zu lassen, und dieser Wunsch hinderte mich daran, ihr anzuvertrauen, was ich empfand." Was so unvermutet begann, verlangt plötzlich wie von selbst nach Dauer: Zahlreiche zufällige Begegnungen und bewusst herbeigeführte Treffen folgen. Während Stella in der Klasse, zum tiefsten Bedauern Christians, der vergebens auf ein Zeichen, eine Bestätigung seiner Erinnerungen wartet, Abstand hält, gehen die beiden in der außerschulischen Öffentlichkeit zunehmend innig miteinander um.

Auf heiße Details hofft der Leser vergebens. Sie sind Lenz, der gerne leise und feinfühlig schreibt, fremd. Er deutet stattdessen an, lässt Blicke und Gesten sprechen. So bekommt die erste gemeinsame Nacht der beiden, die viel mit Nähe, aber noch nichts mit Körperlichkeit zu tun hat, in einem geblümten Hotelkissen, das dezent Platz für zwei bietet, ein Sinnbild; und auch der Liebesakt "in der Mulde bei den Kiefern", der fast unspektakulär über die Bühne geht, hat kaum etwas mit Verlangen zu tun. Keuschheit schön und gut, doch wo ist die Leidenschaft aus der aufkeimenden Beziehung?

Etwas unglaubwürdig ist diese Liebesgeschichte deswegen schon. Zwar neigt der Leser dazu, in der Unterkühltheit der Gefühle und der Wortkargheit der Figuren nach einem geläufigen Klischee das eigentlich Norddeutsche an der Geschichte auszumachen, und doch vermisst man wenigstens bei Christian den üblichen Gefühlsüberschwang, den Rausch der ersten Liebe. Unklar bleibt auch, warum Stella zu dem Verhältnis ihr "glückliches Einverständnis" gibt. Christian wird den störenden Reflex, seiner Stella unbewusst auch privat die Autorität zuzuerkennen, die sie in der Klasse besitzt, mit der Zeit wohl ablegen können. Wird aber ihr Umfeld für eine Lehrerin-Schüler-Beziehung, die mehr als Verehrung ist, Verständnis aufbringen? Dass man sich versetzen lassen könnte, wird von Stella angedeutet, aber nie ernsthaft erwogen.

Es ist die Gelassenheit und Zuversicht, mit denen Lenz' Figuren den Ereignissen des Lebens, kleinen wie großen, guten wie schlechten, begegnen, die den Zauber dieser Novelle trotz kleiner Mängel ausmachen. Sie sind dem masurischen Menschen aus Lenz' Herkunftswelt - denken wir nur an die Erzählungen, die ihn berühmt machten - ebenfalls eigen wie den norddeutschen Fischern: "Du mußt glauben, sie hätten aufeinander gewartet", bemerkt Christians Mutter unaufgeregt, als sie die Beziehung der beiden entdeckt, und auch der Vater unterstützt stillschweigend den Wunsch des Sohnes, mit der einige Jahre älteren Stella "das Zusammenleben zu lernen". Vor diesem Hintergrund ist auch Christians abgeklärte Haltung, mit der er im permanenten Wechsel zwischen Sie und Du über seine Geliebte und ihren Tod erzählt, zu verstehen. Wie sonst würde ein Achtzehnjähriger denn wissen, fragt sich der Leser, dass Unglück zum Leben gehört?


Titelbild

Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008.
128 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783455042849

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