Daumen im Schnabel

In seinem Genozid-Roman „Hundert Tage“ demaskiert Lukas Bärfuss die schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schweiz ist schuld – so lautet die Botschaft des Romans „Hundert Tage“, den der als Dramatiker bekannt gewordene Lukas Bärfuss vorgelegt hat. Hintergrund der Handlung um den Nachwuchs-Entwicklungshelfer David Hohl ist der Völkermord der Hutu an den Tutsi, der in Ruanda vom 6. April bis Mitte Juli 1994 – also in etwa hundert Tagen – 800.000 bis 1.000.000 Menschen das Leben kostete.

Bärfuss hat damit den ersten deutschsprachigen Roman über einen Massenmord verfasst, dessen komplexe Ursachen noch lange nicht zur Gänze geklärt sind. Dass er darin auch noch seinem ‚Saubermann‘-Geburtsland vorwirft, es habe das Know-How des Völkermords nach Ruanda exportiert, hat bereits für einiges Aufsehen gesorgt.

Mit solchen Schlusssätzen, wie sie der Ich-Erzähler am Ende des Buchs äußert, kann man bei den Eidgenossen offenbar tatsächlich noch Empörung auslösen und als Romancier punkten: „Unser Glück war immer, dass bei jedem Verbrechen, an dem je ein Schweizer beteiligt war, ein noch größerer Schurke seine Finger im Spiel hatte, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog und hinter dem wir uns verstecken konnten. Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Soße unterzugehen.“

Diese Polemik aus dem Munde eines Protagonisten, der glaubte, in Afrika Menschen helfen zu können, um schließlich als gebrochener Mann mit dem Bewusstsein nach Europa zurückzukehren, an einem Massenmord mitschuldig geworden zu sein, ist das eine. Doch wer wie sein Autor Bärfuss sein Debüt gleich über die Geschichte des größten Genozids nach 1945 schreibt, geht auch große Risiken ein. Geht es für den Anfang nicht auch eine Nummer kleiner? „Hundert Tage“ ist schon von der Erzählsituation her ein Text, der offen mit seiner Vermessenheit kokettiert.

Allerdings gelten in der Literatur besondere Regeln. Da sich ein komplexer Vorgang wie ein moderner, medial vorbereiteter und perfekt durchorganisierter Massenmord, der so archaischen Waffen wie Macheten und Knüppeln eine grausige Renaissance bescherte, sowieso nicht so darstellen lässt, „wie er wirklich war“, muss sich der Autor auf die Stärken seines Mediums besinnen. Texte können zum Beispiel auf andere Texte verweisen, die schon geschrieben worden sind, und sie vermögen mit solchen Andeutungen manchmal mehr zu sagen, als mit tausend vollgeschrieben Blättern.

Bärfuss hat diese Kunst beherzigt – jedoch knapper als etwa Jonathan Littell, der mit einer Hilfsorganisation in Ruanda war, danach die Ärmel hochkrempelte und in seinem ersten Roman auf 1.400 Seiten gleich die ‚ganze‘ Geschichte der Shoah nachzuerzählen versuchte, samt intertextuellen Aischylos-Anleihen, beigegebenen Organigrammen und langen historiografischen Literaturlisten. Auch Bärfuss hat zwar genau recherchiert. Man merkt es seinem Text an, dass er auf der Grundlage soliden zeitgeschichtlichen Wissens verfasst wurde. Aber er kommt mit knapp 200 Seiten aus.

Ähnlich wie bei Littell spielt auch bei Bärfuss die Erotik eine zentrale Rolle. Dass er versuche, „Affinitäten zwischen dem sexuellen Begehren seiner Hauptperson und der Erfahrung von Gewalt herzustellen“, gefährde jedoch „die Einsichten in die kulturelle Katastrophe“, die sein Roman verpreche, monierte daran die „Frankfurter Rundschau“. Dabei ist „Hundert Tage“ in seiner Kürze auf derlei Allegorisierungen angewiesen, um eurozentrische Projektionen zu entlarven, die zur Vorgeschichte des Genozids ebenso gehören wie auch zur Entwicklung der Figur David Hohls selbst. Im Übrigen ist Bärfuss‘ Roman damit in auffälliger Weise auf Heinich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ (1811) beziehbar, in der ebenfalls ein liberaler Schweizer in die Wirren eines antikolonialen ‚Rassenkrieges‘ gerät und eine junge Frau verführt, deren ethnische ‚Zugehörigkeit‘ ihm zunächst unklar ist. Auch bei Kleist wird der Fokus auf das ‚Tabu‘ des prekären sexuellen Kontakts zwischen einem ‚Weißen‘ und einer ‚Schwarzen‘ – genauer: einer „Mestizin“ mit ‚gelblicher‘ Gesichtsfarbe – zum Spiegel von Massakern, die im Text nicht genauer vorkommen.

David Hohl ist zudem – nomen est omen – ein ähnlicher Blödmann wie Kleists Protagonist. Hohl ist stolz auf seinen „Schwanz“ und zeigt sich empört, als ihm seine reizende Hutu-Gespielin Agathe cool mitteilt, ihr Land sei vielleicht erobert worden – doch heiße das noch lange nicht, dass er jetzt auch noch ihren Körper kolonisieren dürfe. Er kommt mit Mitte zwanzig nach Ruanda, und was er hinterher einem namenlosen Erzähler in einem schweizer Tal über seine dortigen Erlebnisse beichtet, zeugt von einer Naivität, die man nicht einmal unter Entwicklungshelfern für möglich gehalten hätte.

Die europäischen Hilfsorganisationen in Afrika werden laut in Hohls Bericht durch lauter Dummköpfe vertreten. Entweder suchen ihre Angestellten ein Luxusleben im ewigen Frühling Ruandas, etwa als Kenner der „Qualität der Ärsche“ im Nachtclub Chez Lando wie Hohls Kollege Missland – oder sie merken in ihrem humanistischen Dünkel gar nicht, dass sie bloß in einer idealisierten Parallelwelt leben, die tunlichst Distanz zum wahren Leid der Menschen hält und dabei auch noch Rassisten unterstützt.

Durch Hohls Erzählungen geistert zudem eine Reihe von Tiergeschichten, die seine Mitläufer- und Mittäterschaft als Entwicklungshelfer metaphorisieren sollen. Gedacht sind sie wohl auch als Allegorien auf die Verworfenheit der Menschheit schlechthin, in der niemand Probleme damit habe, seinesgleichen zu behandeln wie die kleinen Fische, die Bärfuss‘ Ich-Erzähler als Junge mit Hilfe in den Fluss geworfener Batterien schwarmweise betäubte und aus dem Wasser holte, um sie zu quälen und aufzuschlitzen, einfach so.

Die wichtigste dieser Anekdoten ist wohl diejenige mit dem Bussard, den Hohl in seinem Garten vor seinem Hutu-Gärtner rettet, der dem Vogel zusammen mit seinem Sohn bereits einen Flügel gebrochen hat und ihn töten will. Hohl entrüstet sich bei der Gelegenheit über die Mitleidlosigkeit der ‚wilden‘ Hutu gegenüber Tieren, die sie genauso grausam behandelten wie später die Tutsi, die sie als „Kakerlaken“ diskriminieren. Auch Hohls Geliebte Agathe entpuppt sich als eine solche eliminatorische Rassistin, was den Protagonisten zu seinem Erstaunen aber sogar noch mehr anturnt.

Um den Bussard zu füttern, den auch Agathe töten möchte, weil er mit seinem Geschrei ihren Schlaf stört, bezahlt Hohl schließlich einen Tagelöhner, der ihm tote Hunde bringt. Da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: „Ich zerhackte Hunde, die man meinetwegen totschlug, gesunde, starke Hunde […], um sie einem verkrüppelten Vogel zu verfüttern, und das Verrückte daran war, dass meine ganze Arbeit, mein ganzes Leben hier nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte und ich nichts Falsches darin erkennen konnte.“

Hohl überlebt die hundert Tage des Hutu-Massakers an den Tutsi in seiner Villa, obwohl er dort beinahe verdurstet. Seinem Bussard geht es dagegen immer besser, weil er sich an den nachbarschaftlichen Haufen menschlicher Kadaver satt essen kann. Als Hohl ihn mit einem menschlichen Daumen im Schnabel erwischt, schlägt er dem Vogel im Affekt mit einer Machete den Kopf ab. „Ich fühlte mich erfrischt“, erzählt er verblüfft, „eine tiefe Befriedigung erfüllte mich, wie nach einem Arbeitstag, an dem man jede Minute genutzt hat.“

So demaskiert man die Schweizer Tüchtigkeit. Dahinter verbirgt sich aber auch diejenige der ehemaligen deutschen und belgischen Kolonialmächte, die Ruanda prägten und dort jene ethnischen Konstruktionen administrativ festschrieben, die 1994 mit zum Genozid führten. Vielleicht verkürzt Bärfuss zu sehr. Das aber tut der präzisen Konstruktion seines Romans keinen Abbruch, die gerade auch durch ihre vielsagenden Auslassungen besticht.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien bereits in der Jungle World Nr. 27 vom 3. Juli 2008.

Titelbild

Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
197 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835302716

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