Mechanismen der Radikalisierung

Bernd Greiner über den Krieg der USA in Vietnam

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Krieg ist durch Brutalität gekennzeichnet und verursacht Leid. Dennoch gibt es in der Erinnerung "saubere" und "schmutzige" Kriege, und das nicht nur abhängig davon, ob ein Krieg gewonnen oder verloren wurde. Die Unterscheidung besteht zu Recht: Auch der Krieg kennt Regeln, die dem Töten und Verletzen Grenzen setzen sollen. Diese Regeln werden in manchen Konflikten ausnahmsweise überschritten, in anderen häufig und manchmal auch systematisch.

Der Vietnamkrieg gehört in die letzte Gruppe. Wohl kaum jemand glaubt heute noch die US-amerikanischen Behauptungen von damals, einen völkerrechtlich korrekten Krieg zu führen. Die Frage ist allenfalls, wie sich die Entgrenzung von Gewalt vollzog und welchen Anteil die politische und militärische Führung einerseits, die Kampftruppen andererseits daran hatten.

Wenn Bernd Greiner sein Buch über die Kriegsführung der USA "Krieg ohne Fronten" nennt, so verweist dies auf die in den letzten Jahren intensiv geführte Diskussion über den Partisanenkrieg, genauer: über die Dynamik von asymmetrischen Kriegen, in denen eine technologisch hochgerüstete Armee einer Guerillatruppe gegenübersteht. Die reguläre Armee steht dabei vor dem Problem, den Feind aufzuspüren, ihn überhaupt von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Ihr Gegner ist schwer sichtbar und kann weitgehend über Zeit und Ort der Konfrontation entscheiden. Die Partisanen können zwar nicht militärisch gewinnen, doch die materiellen und ideellen Kosten so hoch treiben, dass die militärisch überlegene Macht politisch zum Rückzug gezwungen wird.

Diese Lage legt eine Eskalation von Gewalt nahe. Es kann eine Strategie der Verwüstung zweckmäßig erscheinen, um der Guerilla Rückzugsräume und Ressourcen zu nehmen; die Kampftruppen sind anders als in einem regulären Krieg dem Dauerstress ausgesetzt, stets und überall einen Angriff befürchten zu müssen, was dazu führen kann, dass vermehrt Opfer in der Zivilbevölkerung in Kauf genommen werden. Andererseits kann auch die Guerilla Interesse daran haben, dass die reguläre Truppe zum Terror übergeht: Dies kostet die Besatzer den Rest an Sympathien, die sie vielleicht noch bei der Bevölkerung haben, und ist außerdem leicht propagandistisch zu verwerten.

Dieses Schema ist allgemein; nicht alle seine Bestandteile müssen vorkommen, und vor allem bezeichnet es keinen Automatismus. Vermutlich weist heute die westliche Kriegsführung in Afghanistan und selbst diejenige im Irak bei weitem nicht die systematische Brutalität auf wie die in Vietnam. Es gilt also, die Einzelfälle zu untersuchen. Greiner hat dazu umfangreiche amerikanische Aktenbestände ausgewertet; Teile davon wurden im Zuge des "Kriegs gegen den Terror" inzwischen wieder gesperrt. Das Geschehen in Vietnam zu rekonstruieren, erwies sich insofern als schwierig, als schon die Einsatzberichte Morde nicht als solche benannten und getötete Zivilisten zumeist als gefallene Vietcong-Kämpfer auftauchten. Ein Indiz kann etwa ein groteskes Missverhältnis zwischen angeblich getöteten Feinden und dabei erbeuteten Waffen sein - regelmäßig war die Zahl der Toten um ein Mehrfaches höher als die der Waffen, was auf einen hohen Anteil an Nichtkämpfern schließen lässt.

Greiner rekonstruiert die US-Kriegsführung zunächst von den Führungsebenen her. Er beginnt mit der politischen Leitung und vermag zu zeigen, dass die USA nicht ungewarnt in eine verhängnisvolle Situation gerieten. In jedem Stadium der Eskalation lagen Analysen vor, die die Gefahren und die geringen Erfolgsaussichten klar benannten - und dies keineswegs von pazifistischer Seite, sondern von führenden Militärs. Nicht Blindheit bestimmte die Politik der Präsidenten, sondern die Furcht, bei einem Rückzug als schwächlich dazustehen; besonders bei Lyndon B. Johnson kamen wahltaktische Überlegungen hinzu. Auf welches Niveau die strategische Planung zuletzt sinken konnte, illustriert Greiner mit einem Nixon-Zitat von 1971: "Also, also, also fickt die Wichser."

Die Generalität war also mit einer Aufgabe belastet, die unmöglich zu lösen war. Obwohl auf dieser Ebene durchaus auch zutreffende Lageeinschätzungen vorlagen, sieht Greiner ein ganzes Bündel von Gründen, weshalb auch hohe Offiziere nicht nur widerwillig die Befehle befolgten, sondern zur Radikalisierung der Kriegsführung beitrugen: Die positive Erfahrung aus früheren Kriegen, schließlich doch mittels überlegener Feuerkraft bei geringen eigenen Verlusten siegen zu können; die Hoffnung des Heeres, den angesichts der zuvor zentralen Planungen für einen Atomkrieg geringen Status durch einen Landkrieg wieder heben zu können; schließlich auch individuelle Karriereerwartungen. In einer sozialen Umgebung, die durch betonte Männlichkeit und durch optimistisches Erfolgsdenken bestimmt war, gerieten Skeptiker in Gefahr, als Schwächlinge zu gelten. So wurden auch Ansätze, mit der südvietnamesischen Bevölkerung zusammenzuarbeiten, statt sie zu terrorisieren, kaum verfolgt.

Die militärische Führung legte zwar rules of engagement fest, die auf den ersten Blick eine am Völkerrecht orientierte Kriegsführung vorzugeben schienen. Doch waren derart viele Ausnahmen formuliert, dass mit einem Minimum an Fantasie fast jede Bombardierung zu jedem Zeitpunkt gerechtfertigt werden konnte. Durch verklausulierte Ermunterungen, durch Belobigungen auch nach extrem brutalen Einsätzen und das Ausbleiben von Strafen entstand bei den Kampftruppen der Eindruck, dass Regelüberschreitungen durchaus einkalkuliert, wenn nicht gar erwünscht waren. Indem der body count, die Zahl der gemeldeten getöteten Feinde, zum zentralen, auch karriererelevanten Erfolgskriterium wurde, lag es nahe, Zivilisten zu Vietcong-Kämpfern zu erklären und sie zu ermorden.

Greiner beschäftigt sich auch mit der Zusammensetzung und den Erfahrungen der unteren Offiziersebene und der Mannschaften. Der Personalbedarf hatte zwar im Kriegsverlauf zu lascheren Einstellungs- und Musterungskriterien geführt, doch scheint dies nicht zu mehr individuellen Verbrechen geführt zu haben - die in der untersten Kategorie Gemusterten waren zuletzt kaum häufiger in Kriegsgerichtsverfahren verwickelt als andere Soldaten. Zwar waren Angehörige sozial niedriger Schichten und ethnischer Minderheiten in Vietnam und besonders in Kampfeinheiten überrepräsentiert - doch war die formale Bildung weitaus höher als die der US-Truppen in Ersten oder Zweiten Weltkrieg. Einmal mehr erwies sich Grausamkeit nicht als Privileg der Dummen. Greiner hebt dagegen Besonderheiten des Vietnam-Kriegs als Erklärung dafür heran, dass manche Soldaten innerhalb weniger Wochen jede Hemmung fallenließen, zu töten, zu foltern und zu vergewaltigen. Als wichtigen Faktor benennt Greiner die Belastung, stets einer Bedrohung durch Minen und Sprengfallen ausgesetzt zu sein, den Feind aber nie zu Gesicht zu bekommen. Das Bedürfnis "to do something physical" sei das Ergebnis gewesen. Eine große Rolle habe auch der Anpassungsdruck innerhalb der Kompanien und Züge gespielt; in manchen der schlimmsten Einheiten übernahmen anstelle unerfahrener Offiziere die rücksichtslosesten unter den kampferfahrenen Soldaten de facto das Kommando und bedrohten zögerliche Abweichler sogar mit dem Tod.

Im Detail untersucht Greiner die Auswirkungen dieser Verhältnisse vor allem anhand von Sondereinsatzgruppen, die 1967 und 1968 in den nördlichen Provinzen Südvietnams kämpften. Trotz lückenhafter und teils sogar verfälschender Dokumentation kann Greiner nachweisen, dass das Kriegsrecht nicht punktuell, sondern systematisch und zumindest mit Wohlwollen der Militärführung verletzt wurde. Er erspart den Lesern keine grausamen Details; doch gleitet die Darstellung nirgends ins Sensationslüsterne ab und wägt Greiner in jedem Punkt ab, was zweifelsfrei belegt und was lediglich plausible Vermutung ist.

Breiten Raum nimmt die Rekonstruktion der Massaker von My Lai und dem nahegelegenen Dorf My Khe im März 1968 ein. Wahrscheinlich gab es etliche solcher Massenmorde, doch wurde erst in der Öffentlichkeit und nur deshalb in den Untersuchungen der Militärgerichtsbarkeit derart genau dokumentiert. Greiner kann deshalb nicht nur Bekanntes darlegen: Dass es die Massaker gab, wie viele Opfer sie forderten, wie sie enthüllt wurden und wie dann die Verantwortlichen doch nicht bestraft wurden. Darüber hinaus kann er zeigen, welche formellen und informellen Machtverhältnisse in der Kompanie, die die Morde verübte, herrschten, wie schon in der Befehlsausgabe den Soldaten größtmögliche Brutalität nahegelegt wurde, ohne dies explizit zu befehlen, und welche Phasen der Radikalisierung und Beruhigung das mehrstündige Geschehen brachte. Der genaue Blick auf das Verbrechen zeigt zudem eine Vielfalt von Verhaltensweisen der etwa hundert Beteiligten, die sowohl individuelle Grausamkeit als auch das Töten auf Befehl einschließen; doch hielten sich auch zahlreiche Soldaten abseits, und einige wenige versuchten ihre Kameraden vom Morden abzuhalten. Nur eine Hubschrauberbesatzung, die nicht zu der Kompanie zählte, griff aktiv gegen das Verbrechen ein und rettete unter Waffeneinsatz einige Zivilisten.

Die Aufklärung dieser wie anderer Morde wurde von der Armeeführung nach Kräften verhindert. Greiner schildert die schwierigen Arbeitsbedingungen der Ankläger, die meist über wenig Ressourcen verfügten und um ihre Karrieren fürchten mussten, sowie die zahlreichen Möglichkeiten von Kommandeuren, Strafen selbst für gut dokumentierte Übergriffe zu verhindern. Ohnehin konnten im Dienst begangene Verbrechen nur von der Militärgerichtsbarkeit bestraft werden; die Entlassung von Tätern aus der Armee, als letztes Rettungsmittel, entzog sie der Militärjustiz und damit jeder Verurteilung. Es gab durchaus Versuche einer rechtlichen Aufarbeitung der US-Kriegsverbrechen in Vietnam, doch insgesamt scheiterten sie.

Man kann dies, wie Greiner, als die Niederlage akzentuieren, die es unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit sicherlich ist. Im Vergleich zu vielen anderen Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert zeigt sich allerdings die Besonderheit, dass überhaupt eine Anklage durch die eigenen Streitkräfte möglich war. Das Widerspiel von einhegenden Einsatzrichtlinien und augenzwinkernd geduldeter Überschreitung, von Militärgerichtsbarkeit und ihrer faktisch geringen Reichweite lässt sich auch als zivilisatorischer Fortschritt betrachten. Es wird getrickst, geheuchelt und gelogen; aber genau das bezeichnet, wie entgrenzte Gewalt einer weltweiten Öffentlichkeit nur noch bedingt zu vermitteln ist. Das nützt den Opfern zwar nichts, setzt aber vielleicht Grenzen für spätere Kriege. Ungewiss dabei ist freilich, ob die Grenzen solche für Verbrechen oder solche für die Berichterstattung darüber sind.

Während die wenigen Reporter, die um 1970 über Kriegsverbrechen der USA berichteten, Mühe hatten, ihre Resultate zu publizieren, wurden die Fotos aus irakischen Gefängnissen schnell und fast begierig verbreitet. Hier hat sich etwas verändert; wie sehr, wird deutlich, weil Greiner die Briefe auswertet, die US-Bürger im Umfeld der Prozesse gegen die Täter von My Lai an staatliche Stellen schrieben. Selbst wenn man annimmt, dass Kriegsgegner sich nicht unbedingt an die Armee wenden, wird deutlich, welch überwältigende Mehrheit der Öffentlichkeit auf Seiten der Angeklagten stand. Verbrechen, so viel wird klar, galten als normaler Bestandteil von Kriegen, und fast wirkt das US-Oberkommando zögerlicher als die Majorität der Wähler.

Genau hier liegt ein Problem. Greiner, der durchaus der aktuellen Mehrheitsmeinung entsprechend auf eine verbesserte juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen setzt, entledigt sich der Schwierigkeit, indem er eine breite Koalition von Rechts und Links zugunsten der Angeklagten beanstandet. Während aber die Rechten es durchaus in Ordnung fanden, hemmungslos abzuschlachten, sahen die linken Kritiker des Vietnamkriegs das Problem, dass die untersten Akteure für die Folgen struktureller Fehlentscheidungen Verantwortung übernehmen sollten. Tatsächlich waren zwar die Beschuldigten individuell verantwortlich; Greiners Rekonstruktion des Geschehens belegt die Verhaltensspielräume, die blieben und zum Teil auch genutzt wurden. Doch hätte eine Verurteilung gleichzeitig eine Entlastung des Systems bedeutet; das ist die Variante, die die US-Armee gut dreißig Jahre später gegen diejenigen Täter wählte, die dumm genug waren, ihre Foltervergnügen bildlich zu dokumentieren. Diejenigen, die den Angriff auf den Irak befahlen, gingen auf jeden Fall straffrei aus.

Greiner rekonstruiert klug die Voraussetzungen der Verbrechen, indem er in seiner Gliederung die Entscheidungen von oben als Voraussetzung der Taten unten zeigt; er geht hinter diesen Erkenntnisstand zurück, indem er eine individualisierende Bestrafung der Täter zur Norm erhebt. Dabei ist nicht die Klage darüber, dass Kompanie- und Zugführer nicht verurteilt wurden, das Problem, sondern die undifferenzierte Verurteilung derer, die den Krieg als System anklagten, anstelle einiger, wenn auch übler Mörder, die das Pech hatten, dass ausgerechnet ihr Mord auffiel.

Doch im Ganzen überzeugt Greiners Buch als quellengestützte, sorgsam argumentierende und sowohl instruktive als auch überzeugende Analyse eines der wichtigsten Kriege im zwanzigsten Jahrhundert.


Titelbild

Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam.
Hamburger Edition, Hamburg 2007.
595 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783936096804

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