Ein Kosmopolit im Zeitalter des Nationalismus

Die Essays von Georg Brandes sind eine Wiederentdeckung

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der dänische Autor und "homme des lettres" Georg Brandes (1842-1927) ist heute nur noch wenigen Lesern ein Begriff. Das war einmal ganz anders. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war der am 4. Februar 1842 in Kopenhagen unter dem Namen Morris Cohen geborene Spross einer großbürgerlichen jüdischen Familie der wohl bekannteste Däne weltweit sowie der meist gelesene und einflussreichste Literaturkritiker und politische Publizist Europas.

Der polyglotte Kosmopolit Brandes, der seinem Freund Friedrich Nietzsche, über dessen "aristokratischen Radikalismus" Brandes 1888 eine vor wenigen Jahren (2004 beim Berenberg Verlag) wieder neu aufgelegte Monografie veröffentlichte, als die Personifizierung des "guten Europäers" galt, schrieb auf Dänisch, Schwedisch, Deutsch und Französisch. Seine vielen Bücher und vor allem seine unzähligen Essays, Kritiken und Kommentare wurden in zahlreiche europäischen Sprachen übersetzt. Er wusste: "Auf dänisch schreiben heißt in der Regel ja in Wasser schreiben. Also gilt es, das Geschriebene in einer der Weltsprachen herausgebracht und beachtet zu bekommen."

Brandes war zu seiner Zeit so etwas wie das "Gewissen Europas". Ein international renommierter und vernetzter Literat und Intellektueller, dessen Ansichten und Einsichten in allen großen europäischen (und auch amerikanischen) Zeitungen und Zeitschriften nachzulesen waren; vergleichbar mit in vielerlei Hinsicht in seinen Fußstapfen stehenden Literaten wie Thomas Mann, Stefan Zweig, George Bernhard Shaw, Jean-Paul Sartre oder in unserer Zeit Umberto Eco oder Hans Magnus Enzensberger. Georg Brandes war zwar gebürtiger Däne und starb 1927 in Kopenhagen, lange Zeit lebte er aber auch in anderen europäischen Ländern (Frankreich, Italien, Deutschland), auch zu Vortragsreisen hielt er sich häufig im Ausland auf.

Brandes studierte an der Universität Kopenhagen Rechtswissenschaften und Philosophie und promovierte über ein Thema der französischen Philosophiegeschichte. Die angestrebte Universitätslaufbahn blieb ihm nicht zuletzt aus antisemitischen Ressentiments zunächst verwehrt, stattdessen hielt er öffentliche Vorträge und wandte sich der literarischen, kulturkritischen und politischen Publizistik zu.

Ein bezüglich seines supranationalen Standpunktes und seines multinationalen Gegenstandes noch heute mit Gewinn zu lesendes Standardwerk der komparatistischen Literaturgeschichtsschreibung ist sein mehrbändiges, auf Vorlesungen an der Universität Kopenhagen beruhendes Werk über die "Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts" (1872-1890). Neben etlichen Essaysammlungen veröffentlichte Brandes auch zum Teil sehr umfangreiche Monografien über "große Persönlichkeiten" der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte wie William Shakespeare, Voltaire und Johann Wolfgang von Goethe sowie religionshistorische Schriften.

Eine Auswahl der gesellschaftskritischen Essays hat der Literaturkritiker und Übersetzer Hanns Grössel unter dem Titel "Der Wahrheitshass. Über Deutschland und Europa 1880 -1925" jetzt beim Berenberg Verlag herausgegeben. Die mit einem kurzen, aber informativen Nachwort des Herausgebers sowie knappen Erläuterungen zu den einzelnen Texten versehene Essaysammlung zeigt Brandes als politisch hellwachen Publizisten, der eine erstaunliche feinfühlige Antenne für gesellschaftliche Misstöne und politische Grundübel wie den Antisemitismus, die Verfolgung ethnischer Minderheiten und nationalen Chauvinismus im Europa der Nationalstaaten um 1900 besaß.

Georg Brandes setzte sich als Publizist und Redner vehement für die Rechte nationaler Minderheiten und der kleinen Länder gegenüber der Großmannssucht der "großen" europäischen Staaten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Russland) ein. Er geißelte als einer von wenigen Publizisten seiner Zeit den Völkermord der Türken an den Armeniern um 1900, setzte sich kritisch sowohl mit dem Antisemitismus als auch mit dem Zionismus auseinander und wurde nicht erst nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges, als dessen Ursache er den "schnaubenden Nationalhass" ausmachte, zum engagierten Verfechter eines geeinten, den Idealen der Aufklärung verpflichteten demokratischen Europas.

Als Publizist fühlte sich Georg Brandes nur einem verpflichtet: der Wahrheit. Diplomatisches Rücksichtnehmen war ihm zuwider, er bevorzugte das klare Wort und zog es vor, eindeutig Stellung zu beziehen. In einem Essay über "Journalistische Portraitkunst" schrieb Brandes 1901 (und charakterisierte sich damit selbst treffend): "Der hervorragende Reporter muss hypnotisieren können wie ein Untersuchungsrichter, ein so feines Gespür haben wie ein dramatischer Schriftsteller und scharfsinnig sein wie ein Irrenarzt." All dies traf auf Georg Brandes zu, wie seine jedem zeitgenössischen kritischen Journalisten als Vorbild dienen könnende Essaysammlung über den "Wahrheitshass" eindrucksvoll unterstreicht.

Nach Publizisten vom Format eines Georg Brandes muss man im Europa des 21. Jahrhunderts lange suchen. Ob man überhaupt fündig wird, ist zu bezweifeln.


Titelbild

Georg Brandes: Der Wahrheitshass. Über Deutschland und Europa 1880-1920.
Ausgewählt, kommentiert und mit einem Nachwort von Hanns Grössel.
Übersetzt aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, Mathilde Prager und Hanns Grössel.
Berenberg Verlag, Berlin 2007.
181 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783937834191

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