Der lange Abschied

Christian Haller legt in seinem Roman "Im Park" unbewusste Tiefenschichten des Daseins frei

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leichtfüßig schreitet der Paläontologe Emile Ryffel an einem kühlen Februarmorgen durch die noch fast menschenleeren Straßen, er ist zu seinem früheren Lieblingscafé nahe am Fluss unterwegs. Bei einem Espresso, der mit dem obligatorischen Glas Wasser gereicht wird, betrachtet er konzentriert die veränderte Umgebung und den immergleichen Fluss. Sein Gefühl, "losgelöst und frei von Verpflichtungen zu sein", dem er sich gerade genüsslich hingibt, wird sich mit dem Blick in den Lokalteil der Zeitung schlagartig verflüchtigen: Dort ist in einem kurzen Bericht über eine Pressekonferenz die engagierte Filmproduzentin Lia Schelbert, seine Lebensgefährtin, abgebildet.

Was Emile zu dem Zeitpunkt noch erfolgreich verdrängt, ist der beängstigende Gesundheitszustand Lias. Er hat sie gestern Nacht in die Universitätsklinik einliefern müssen, "Koma als Folge einer intrazerebralen Blutung" lautet die schockierende Diagnose. Dass ihn dieser Schicksalsschlag in den nächsten Monaten "zu Einsichten von singulärem Rang" führen wird, ahnt er nicht, allzu sehr ist er mit der Wiedergewinnung seiner alten Lebensordnung aus der Erinnerung beschäftigt. Er spürt in sich eine verzweifelte Wut aufsteigen und würde am liebsten auf die Wand einschlagen, die zwischen ihm und seinem bisherigen Alltag wächst.

Außer den gemeinsamen Abenden in ihrer winzig kleinen Wohnung und jenen anderen Beschäftigungen, denen Emile mit Lia nachging und die für ihn ohne sie keinen Sinn mehr ergeben, bliebe in diesem abgeschlossenen Teil seines Lebens auch Klara zurück. Trotz wachsender Schuldgefühle, seine Liebe für die Achtzehnjährige könnte Lia in die Krankheit getrieben haben, ist er nicht gewillt, die Affäre mit ihr zu beenden. Soll er bei seiner Frau bleiben und mit der permanenten Angst leben, sie könnte sterben und jeden Tag auf ein Wunder hoffen, das sie ihm zurückbringt? Das eigene Leben zunehmend nach den Besuchszeiten der Klinik ausrichten und womöglich Jahre später unbewusst den Abbruch der Linie auf dem Monitor wünschen? Oder sie verlassen und bei der unbeschwerten Klara Sicherheit und Halt suchen? Hat er doch in der letzten Zeit nicht immer mehr Lia aus seinen Gefühlen ausgeschlossen und sich nach einem neuen, anderen Leben gesehnt? Emile steht vor einem Dilemma, aus dem er keinen Ausweg findet, ohne sich selbst oder eine der geliebten Frauen zu verletzen.

Christian Haller beschreibt den schwierigen Prozess der Entscheidungsfindung seiner Figur äußerst kunstvoll und ohne die Trivialität einer üblichen Dreiecksgeschichte. Er findet poetische Bilder für Emiles anfängliche selbstmitleidige Trauer genauso wie für seine gerechtfertigten Ängste vor einer Zukunft, in der Lia stets und überall auf seine Hilfe angewiesen wäre. Er macht nach und nach sichtbar, was es für Emile bedeutet, die geliebte Frau, die noch vor kurzem trotz Anfeindungen und Diffamierungen energisch ihre filmischen Projekte verfolgte, auf ihren Körper - "Hand", "Ohr", "Nase", "Lippen" und "Augen" heißen die entsprechenden Kapitel - reduziert zu sehen. Er lässt den verzweifelten Emile, der an Wissenschaft und Fakten glaubt, in Lias letzter Lektüre, in Raymond Chandlers Kriminalroman "The long Good-bye", wie in einem Orakel über Lias Zustand nach einem Hinweis für die Zukunft suchen. Dass seine schwärmerischen Briefe an Klara dagegen vor Leben strotzen, verdankt er Hieronymus Boschs spätmittelalterlichem Traumbild eines Liebesparadieses, dem Triptychon "Der Garten der Lüste". In all diesen miteinander auf subtile Weise vernetzten Passagen beweist Haller sein schriftstellerisches Können und bereitet dem Leser einen literarischen Genuss höchsten Ranges.

Je mehr Schichten seines bisherigen Lebens Emile in detaillierter Kleinstarbeit freilegt, desto fragwürdiger erscheinen ihm dessen verkrustete Strukturen. Als Erstes erlangt er Klarheit über seine berufliche Situation: Von den Rangeleien um Positionen in der Institutshierarchie und von den Kontroversen um seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen ermüdet, steht für ihn relativ früh fest, dass er am Ende seines Sabbaticals nicht mehr ans Institut zurückkehren wird. Mit der Zeit kommen ihm auch Zweifel, ob ein Zusammenkommen mit Klara, schon wegen des Altersunterschieds, überhaupt möglich ist. Die späte Einsicht, "in all seinen Inszenierungen läge auch ein Missbrauch von Klara, die er liebe, ohne jedoch auf Lia verzichten zu wollen", findet ihre Entsprechung in Klaras Verhalten: Noch sitzt Emile mit ihr am Teich, doch sie hat ihn in ihren Träumen von einem Leben in einer Großstadt, beruflichem Erfolg, außergewöhnlichen Erfahrungen und häuslicher Geborgenheit längst zurückgelassen. "Mein ganzes Dasein mache ich zu einem Hohngelächter über mich selbst", lautet schließlich sein vernichtendes Urteil.

Als Lia nach Monaten aus dem Koma aufwacht und die einseitige Lähmung und damit der Grad ihrer Abhängigkeit von ihrem künftigen Umfeld fest stehen, hat sich auch Emile entschieden. Zwar stellt er sich noch ein letztes Mal, bevor er sich, wie er meint, für den "Rest des Lebens in Gefangenschaft" begibt, die Frage nach der Freiwilligkeit seiner Tat. Doch er weiß, er könnte Lia für nichts in der Welt verlassen, weil er es ist, der sie braucht.


Titelbild

Christian Haller: Im Park. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2008.
185 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872841

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch